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- Ausgabe Dezember 2023
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Perspektiven: Frühe Sprachförderung
Das in diesem Jahr vom Landrat beschlossene Gesetz über die frühe Sprachförderung ermöglicht es den Gemeinden, ein selektives Sprachförderobligatorium einzuführen. Gleichzeitig wird eine obligatorische Sprachstandserhebung eingeführt. Es ist an den Gemeinden zu entscheiden, ob sie die Eltern von Kindern mit Sprachförderbedarf auffordern, ihr Kind entweder in ein obligatorisches oder freiwilliges Sprachförderangebot in einer Spielgruppe oder KITA zu schicken. Wir haben mit Thomas Nigl vom Fachbereich Familien darüber gesprochen, wie es zum Gesetz gekommen ist, wie es umgesetzt wird und was es bringt.Text: FIBL, Foto: Thomas Nigl
Was ist mit früher (Sprach-)Förderung gemeint und wie stehen die Begriffe zueinander?
Bildung in klassischem Sinne setzt beim Eintritt in den Kindergarten bzw. ins Schulsystem an. Damit Kinder gut und reibungslos in die Schule starten können, brauchen sie aber erst einmal die grundlegenden Fähigkeiten, in der Schule auch mitzukommen, damit sich ihre Chancen verbessern, eine gute Bildungslaufbahn zu bekommen und später einen guten Abschluss. In Basel-Stadt hat die Sprachstandserhebung gezeigt, dass ca. 40% aller Kinder im Alter von drei Jahren nicht ausreichend Deutsch sprechen, um gut vorbereitet in die Schule zu gehen. Wir gehen davon aus, dass die Zahlen bei uns im Kanton ähnlich aussehen werden. Diese Kinder sind erst einmal damit beschäftigt, die Lehrperson verstehen zu können. Da bleibt wenig Platz, um im Unterricht mitzukommen und Neues zu lernen. Die frühe Sprachförderung setzt hier an. Schon vor der Schulzeit lernen Kinder jeden Tag – sie tun es einfach verspielt und alltagsintegriert, man kann auch sagen «intuitiv» durch Beobachtung und Erleben. Deshalb nehmen wir es nicht so sehr als «Bildung» wahr. Aber Fähigkeiten, welche die Kinder im freien Spiel miteinander und im Kontakt mit fördernden Erwachsenen erwerben, sind grundlegend für die weitere Entwicklung. Das betrifft nicht nur Sprache. Motorische, emotionale, kognitive und soziale Fähigkeiten sind eng miteinander verknüpft. Will man eines fördern, muss man alle miteinbeziehen. Frühe Sprachförderung ist daher sinnvollerweise auch immer eingebettet in frühe Förderung im Allgemeinen. Frühe Sprachförderung verfolgt das Ziel, Kindern schon früh durch ein anregendes Umfeld die sprachlichen Fähigkeiten mit auf den Weg zu geben, damit sie dann in der Schule nicht alles gleichzeitig nachholen müssen. Das betrifft übrigens nicht nur fremdsprachige Kinder, auch knapp 20% der deutschsprachigen Kinder haben Sprachförderbedarf.

Zur Person
Nach seinem Studium in Soziologie, Philosophie und Pädagogik an der Uni Basel (Abschluss 2009) hat Thomas Nigl beim Kanton Basel-Landschaft zuerst beim Fachbereich Kindes- und Jugendschutz, dann in verschiedenen anderen Stellen gearbeitet (Amt für Kind, Jugend und Behindertenangebote, Fachbereich Integration, Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt). Seit 2014 ist er beim Fachbereich Familien tätig, wo er 2019 die Leitung übernommen hat.
Warum braucht es im Baselbiet ein Gesetz über die frühe Sprachförderung?
Auf Kantonsebene wurde die frühe Sprachförderung bislang vor allem über das Kantonale Integrationsprogramm (KIP) gestützt, insbesondere über das Programm «Deutsch in Spielgruppen» des Ausländerdiensts (ald), das überall im Kanton Angebotslücken geschlossen hat. Spielgruppen konnten bei Bedarf externe Sprachförderpädagoginnen einladen, die dann vor Ort Sprachförderung für Kinder mit Sprachförderbedarf angeboten haben. Das war ein sehr gutes, aber auch punktuelles Angebot, das nicht eingebettet war in ein Gesamtkonzept des Kantons. Da es über das KIP finanziert wurde, war auch stets unsicher, wie lange das Angebot noch weiter finanziert werden konnte. Ziel des KIP ist es ja, Integrationsangebote zu ermöglichen, die dann in Regelstrukturen überführt werden sollen. Und genau das ist hier passiert. Wobei sich das KIP nicht einfach zurückzieht. Das Angebot «Deutsch in Spielgruppen» wird noch drei Jahre lang hälftig mitfinanziert und auch danach können interessierte Gemeinden darauf zurückgreifen, sofern der ald es dann noch anbietet. Mit den frei werdenden Geldern sollen nun Massnahmen ermöglicht werden, welche die Sprachförderqualität weiter verbessern. Es wird eine Reihe von Weiterbildungs- und Vernetzungsangeboten geben, die über das KIP laufen, ebenso wie die Supervisionsangebote, die von Spielgruppen und KITAs kostenlos gebucht werden können.
Ausserdem haben viele Gemeinden im Kanton schon lange erkannt, dass Investitionen in die frühe Förderung sich lohnen, und angefangen, insbesondere mit Spielgruppen, aber auch mit KITAs zusammenzuarbeiten. Eines der prominentesten Beispiele ist das Leimental, wo sich mehrere Gemeinden zusammengeschlossen haben und eine Koordinationsstelle die Anstrengungen organisiert. Einige Gemeinden des Kantons wollten dann, um schwer erreichbare Eltern zu erreichen, ein Sprachförderobligatorium einführen. Doch dafür fehlte die gesetzliche Grundlage. Es wurde aber schnell klar, dass es Aufgaben im Feld der frühen Förderung gibt, die besser auf kantonaler Ebene umgesetzt werden und solche, welche die Gemeinden besser umsetzen können. Die Sprachstandserhebung beispielsweise ist sinnvollerweise überall gleich, so dass der Sprachförderbedarf von Kindern überall anerkannt wird. Auf der anderen Seite sind die Gemeinden näher bei den Spielgruppen, den KITAs und auch bei den Erziehungsberechtigten. Sie kennen die Ausgangslage und Infrastruktur vor Ort, weshalb sie die direkte Zusammenarbeit mit Akteurinnen und Akteuren sowie Familien viel besser aufgleisen können. Das Gesetz soll nicht nur die gesetzlichen Grundlagen für ein Sprachförderobligatorium schaffen, sondern auch dafür sensibilisieren, wie wichtig frühe Sprachförderung ist, dass die öffentliche Hand hier Unterstützung anbieten muss. Und es soll auch freiwillig wahrgenommene Sprachförderung unterstützen.
Handelt es sich bei der frühen Sprachförderung um ein flächendeckendes Thema?
Auf jeden Fall, und zwar nicht nur für Gemeinden mit einem hohen Anteil fremdsprachiger Kinder. Auch Schweizer Kinder, deren Erstsprache Deutsch ist, profitieren von Sprachförderangeboten. Und ein Fünftel hat, wie bereits erwähnt, Sprachförderbedarf. Es betrifft also auch Gemeinden ohne fremdsprachige Kinder. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn alle Gemeinden flächendeckend Angebote früher Sprachförderung aufbauen würden. Aber vorschreiben kann das den Gemeinden niemand. Die Gemeindeautonomie hat einen grossen Stellenwert in Baselland, und das sicher auch zu Recht, sind die Ausgangslagen der Gemeinden doch oft grundverschieden. Das Gesetz ist deshalb auch im Sinne des politischen Vorstosses darauf ausgerichtet, den Gemeinden die Entscheidung selbst zu überlassen, ob Bedarf besteht oder nicht. Es kann durchaus Gemeinden geben, in welchen es eine Verschwendung von Ressourcen wäre, Sprachförderspielgruppen aufzubauen, und am Ende hat kein einziges Kind Sprachförderbedarf. Das Gesetz soll aber gleichzeitig dafür sorgen, dass mit der vorgesehenen jährlichen Sprachstandserhebung diese Entscheidung der Gemeinden eine bewusste Entscheidung aufgrund von statistischen Erkenntnissen ist und man sich die Frage über die Notwendigkeit von Sprachförderangeboten in regelmässigen Abständen stellen muss. Es ist dabei durchaus legitim, wenn die Antwort «Nein» lautet.
Wie sehen die Reaktionen auf das Gesetz aus? Wie ist die generelle Stimmung? Welche Bedenken und Herausforderungen sind vorhanden bzw. werden erwartet?
Grundsätzlich denke ich, sind heute zwei Dinge unbestritten: Erstens, dass frühe (Sprach-)Förderung ein wichtiges Thema auch für einen ländlichen Kanton wie den Kanton Baselland ist und zweitens, dass es dazu Engagement von allen staatlichen Ebenen braucht. Deshalb war es auch so wichtig, dass das Gesetz von einer Arbeitsgruppe erarbeitet wurde, in der gleichermassen Gemeinde- und Kantonsvertretungen beteiligt waren. Die Reaktionen waren dann auch sehr ausgeglichen: Es gab Stimmen, die fanden, dass wir nicht weit genug gehen, wenn wir auf ein Angebotsobligatorium der Gemeinden verzichten, und andere, die fanden, wir würden zu weit gehen, wenn wir ein Sprachförderobligatorium ermöglichen, da frühe Förderung Aufgabe der Eltern sei und der Staat höchstens unterstützen, aber nicht zwingen dürfe. Alles in allem gab es aber schlussendlich weder im Landrat noch seitens Regierungsrat Gegenstimmen gegen das Gesetz. Ich denke, das Gesetz trifft die goldene Mitte sehr gut.
Bedenken kamen vereinzelt von Seiten der Spielgruppen, die befürchteten, dass sie am Ende ganz alleine den Erwartungen von Erziehungsberechtigten nach Sprachförderangeboten gegenüberstehen würden. Ich hoffe, dass wir diesen Befürchtungen mit den zahlreichen vorgesehenen kostenlosen Weiterbildungs- und Unterstützungsangeboten gerecht werden konnten, insbesondere mit dem Sockelbeitrag. Den kann jeder Spielgruppenanbieter und jede KITA einmal pro Institution beantragen, wenn sie professionelle Sprachförderangebote haben und sich anerkennen lassen als «Angebot früher Sprachförderung» wollen. Dafür müssen sie vor allem eine Weiterbildung besucht (z.B. das Einführungssemester frühe Sprachförderung der Berufsfachschule Basel) und ein Sprachförderkonzept haben, in welchem verschiedene Rahmenbedingungen festgehalten sind. Die Gemeinden prüfen die Anträge dann anhand einer Checkliste, die der Kanton noch erstellt. Das Ergebnis melden sie dann dem Kanton und der zahlt den Sockelbeitrag von bis zu CHF 1'000.- pro Jahr aus. Der genaue Ablauf und die definitive Höhe werden noch im Rahmen der Verordnung diskutiert. Und beantragen kann man den Sockelbeitrag dann voraussichtlich in der zweiten Jahreshälfte 2024.
Bedenken kamen aber auch von Seiten der Gemeinden, wie viel Aufwand mit dem Gesetz auf sie zukommt und ob sie die fachliche Kompetenz hätten, bspw. die Prüfung der Sprachförderkonzepte durchzuführen. Das haben wir natürlich auch in der Arbeitsgruppe diskutiert. Und der Grundgedanke ist auch hier, dass wir eine Checkliste erstellen, anhand der man diese Aufgaben mit wenig Aufwand und ohne fachliches Hintergrundwissen erfüllen kann. Da steht dann beispielsweise drin: «Findet die Sprachförderung in der Spielgruppe alltagsintegriert oder separativ statt?» Das kann man im Konzept ablesen. Und auch die Aufgabe, eine kommunale Kontaktstelle/Kontaktperson für Erziehungsberechtigte und den Kanton zu definieren, wird in kleinen Gemeinden kaum Aufwand erzeugen. Da geht es darum, einmal im Jahr bei einzelnen Familien nachzufragen, ob sie Unterstützung bei der Sprachstandserhebung benötigen und interessierte Erziehungsberechtigte über vorhandene – oder nicht vorhandene – Sprachförderangebote zu informieren. Das kann in kleinen Gemeinden im Rahmen bestehender Stellen übernommen werden oder sie schliessen sich zu einem Verbund zusammen. In grösseren Gemeinden kann es sein, dass dafür dann Koordinationsstellen mit eigenem Stellenpensum Sinn machen, wie beispielsweise im Leimental, in Münchenstein oder Birsfelden und anderen. Da gibt es schon einige Stellen im Kanton.
Vor welchen Herausforderungen werden Sie voraussichtlich nach dem Inkrafttreten des Gesetzes stehen?
Wir haben uns bei der Vorbereitung natürlich auch mit anderen Kantonen wie Basel-Stadt und Solothurn ausgetauscht, aber auch mit Fachverbänden. Eine Sorge, die wir haben, ist, dass es zu einem Angebotsengpass kommen wird: Mit der Sprachstandserhebung wird auch die Nachfrage nach Sprachförderangeboten steigen. Wir wurden schon von mehreren Seiten darauf hingewiesen, dass wir diesen Engpass erleben werden, dass wir ihn aber nicht vermeiden können. Wir müssen uns also bewusst sein, dass es ihn geben wird, und möglichst viel tun, um insbesondere Spielgruppen dazu zu motivieren, mit dem Kanton und den Gemeinden zusammenzuarbeiten. Und dazu gehört zuallererst einmal die Anerkennung der oft unterschätzen Leistung der Spielgruppenleiterinnen, die diese jeden Tag mit den Kindern erbringen. Das bezieht sich auch auf die finanzielle Anerkennung, weshalb es den Sockelbeitrag gibt.
Auch die Frage, wie wir den Effekt der Anstrengungen im Bereich der frühen Sprachförderung alle fünf Jahre messen sollen, bereitet uns noch Kopfzerbrechen. Komplexe soziale Dynamiken zu messen, ist sehr schwer und aufwändig. Woran misst man nach fünf Jahren die Wirkung früher Sprachförderung, wenn die Effekte erst zehn Jahre später wirklich sichtbar werden? Aber da erarbeiten wir aktuell Lösungen, auch kantonsübergreifend mit unseren Nachbarkantonen.
Was sind die nächsten Schritte? Wie bereitet sich der Kanton für eine reibungslose Durchführung vor?
Wir werden das kommende erste Halbjahr 2024 nutzen, um alle Unterlagen zu erstellen, alle Abläufe vorzubereiten und möglichst viele Fragen zu beantworten. Im Leimental führen wir im Januar 2024 im Rahmen eines Pilotprojekts mit den Gemeinden eine Sprachstandserhebung durch, um alle Handgriffe einzuüben und Stolpersteine bei der Datenerhebung und –auswertung frühzeitig zu erkennen. Ab Sommer 2024 wird es dann beim Fachbereich Familien (Sicherheitsdirektion) eine Koordinationsbeauftragte für die frühe Sprachförderung geben. Da haben wir eine Mitarbeiterin gefunden, die sehr motiviert, kompetent und erfahren ist. Und wir stehen in ständigem Austausch mit Spielgruppen und Gemeinden, um frühzeitig Lösungen für Herausforderungen gemeinsam erarbeiten zu können.
Und längerfristig? Wagen Sie einen Ausblick?
Der erste Schritt ist nun die geplante Austauschveranstaltung mit Gemeindevertretungen am 1. Februar 2024 in Liestal. Dort werden wir noch einmal direkt über das Gesetz und das KIP 3 informieren und uns mit den Gemeinden zu Anliegen und der kommenden Zusammenarbeit austauschen. Der nächste Schritt ist dann, erst einmal Erfahrungen mit dem bestehenden Gesetz und der frühen Sprachförderung zu sammeln. Und wer weiss, vielleicht diskutieren wir dann in fünf bis zehn Jahren, wenn wir eine ausgebaute Infrastruktur haben, über ein Angebotsobligatorium, so dass alle Kinder Zugang zu früher Sprachförderung bekommen.