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- Ausgabe März 2023
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Perspektiven: Gespräch mit Aysun Polat
Die Stärken als Chance sehen. Aysun Polat setzt sich für mehr Chancengerechtigkeit in der Schule ein. Sie unterrichtet im Längi-Quartier in Pratteln, in dem der Anteil der Menschen ohne Schweizer Pass mit rund 65 Prozent im Baselbieter Vergleich überdurchschnittlich hoch ist, und erzählt von ihren Erfahrungen.Text und Foto: Tobias Gfeller
Obwohl es Fortschritte gibt, ist im Baselbieter und Schweizer Bildungssystem für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund noch immer nicht für vollständige Chancengerechtigkeit gesorgt. Dies zeigt sich gerade bei den Übertritten von einer Schulstufe in die andere. Besonders gefordert sind da die Lehrpersonen wie Aysun Polat, die am Schulhaus Längi in Pratteln eine Mehrjahrgangsklasse aus Fünft- und Sechstklässlern unterrichtet. Die überwiegende Mehrheit ihrer Schulkinder hat einen Migrationshintergrund. Das Thema Chancengerechtigkeit in der Bildung sei im Schulhaus sehr präsent. «Im Klassenzimmer widerspiegeln sich die sozialen Ungleichheiten der Gesellschaft und werden direkt reproduziert, weil die Kinder die Stütze der Eltern nicht haben.» Es käme im Quartier häufiger vor, dass Eltern mehrere Jobs haben und Schicht arbeiten und so weniger Zeit haben, ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen. «Es geht dabei oft gar nicht darum, dass die Eltern bildungsfern sind oder die Abschlüsse fehlen, aber sie werden in der Schweiz nicht anerkannt oder den Eltern fehlt die Sprachkompetenz.»

Zur Person
Aysun Polat studierte an der PH FHNW in Liestal. Mit der Frage, welche Faktoren in der Primarschule zu einer Benachteiligung von Migrantenkindern führen und wie diese ausgeglichen werden können, um Chancengleichheit zu gewährleisten, setzte sie sich mit einer Kommilitonin in ihrer Bachelorarbeit auseinander. Zeitgleich zum Studium arbeitete sie als Primarlehrerin in verschiedenen Schulhäusern in den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft. Seit 2016 arbeitet sie als Klassenlehrerin im Schulhaus Längi in Pratteln.
Besonders viel Arbeit mit den Eltern
Ein wichtiger Faktor der Chancenungerechtigkeit sei das fehlende Wissen der Eltern über das Schweizer Bildungssystem sowie über die Erwartungen der Schule gegenüber dem Elternhaus. Aysun Polat versucht jeweils von Beginn weg ab den ersten Elterngesprächen, das fehlende Wissen wettzumachen und aufzuzeigen, wie die Eltern ihre Kinder unterstützen können. Die Kluft zwischen Kindern ohne und mit Migrationshintergrund akzentuiere sich beim Übertritt in die Sekundarstufe. «Alle Ungleichheiten, alles was den Eltern widerfahren ist, widerfährt in diesem Moment ihren Kindern», beschreibt Aysun Polat bezüglich Chancengleichheit und Werdegang. Die Angst, dass ihr Kind ins Tiefste der drei Niveaus (Niveau A) kommt, sei bei Eltern mit Migrationshintergrund besonders gross, weil sie befürchten, dass ihr Kind den gleichen Weg einschlagen «muss» wie sie selber, erklärt Aysun Polat. «Auch ich kam zuerst ins Niveau A und habe es trotzdem geschafft. Das erzähle ich den Kindern und den Eltern immer wieder von Neuem.» Die Prattler Primarlehrerin wird so auch zum Vorbild. Die Arbeit mit den Eltern sei für sie als Lehrerin im Längi-Quartier besonders wichtig.
Studien wie zum Beispiel der Equity-Bericht zeigen, dass Kinder mit und ohne Migrationshintergrund bei Übertritten unterschiedlich bewertet werden. Diese Untersuchungen bestätigt Aysun Polat in der Praxis. «Ich höre oft von Kolleginnen von anderen Schulen, dass Kinder mit Migrationshintergrund trotz guter Noten nicht ins Niveau P eingeteilt werden, weil man es ihnen nicht zutraut oder sie schützen will, wovor auch immer.» Eine voreingenommene Einteilung könne das Selbstbild des Kindes zusätzlich belasten. Es sei essenziell, dass man keine Unterscheidung vornimmt. «Studien zeigen auch, dass, wenn man den Kindern mehr zutraut, künftig auch mehr Lernerfolg eintritt.»
Dem Kind etwas zutrauen
Genau danach versucht Aysun Polat bei den Übertritten zu handeln. «Ich gewichte die Stärken und Potenziale eines Kindes mehr als dessen Schwächen und vor allem als die möglichen Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, dass sie vielleicht noch nicht perfekt Deutsch können oder ihre Eltern ihnen nur minim helfen können.» Mutig sein, dem Kind etwas zutrauen, Fleiss belohnen, die Leistungen des Kindes anerkennen und es nicht an der Sprache und wegen der mangelnden Allgemeinbildung fallen lassen, diese Strategie habe sich bewährt, verrät die Prattler Primarlehrerin. «Noch kein Kind, das ich bei einem schwierigen Entscheid ins höhere Niveau eingeteilt habe, wurde später nach unten versetzt.» Aysun Polat wünscht sich von den Schulen, dass dies vor den Übertrittsentscheidungen immer wieder in Erinnerung gerufen wird. Auch fordert sie von Lehrpersonen, sich vom «perfekten Bild» eines Kindes, zu dem auch eine Idealvorstellung seiner Eltern gehören, zu lösen.
Auch sie selber müsse sich immer wieder daran erinnern, alle Kinder gleich einzuschätzen, gibt Aysun Polat zu. «Man hat ein Bild von einem Kind: Das kann es und das weniger. Dann hat man noch die Sprachdefizite der Eltern im Kopf und schon bewertet man das Kind anders.» Man müsse sich stets ein breites Bild eines Kindes machen und bei wichtigen Entscheiden immer wieder in sich gehen und genau überlegen. «Man darf kein Bild der perfekten Schülerin oder des perfekten Schülers im Kopf haben und die eigenen Schülerinnen und Schüler mit diesem vergleichen beziehungsweise nach diesem Massstab urteilen. Man muss sich immer bewusst machen, dass ein Kind mehr kann, als man sieht, und sich entwickeln wird, sofern man dem Kind mehr zutraut und es entsprechend fördert.»
Zu viel Gewicht für das fehlerfreie Deutsch?
Die Sprache werde im Schweizer Bildungssystem zu stark gewichtet, gerade auch das grammatikalisch perfekte Deutsch, findet Aysun Polat. Ein zusätzliches sowie integratives Förderangebot der Sekundarschule I im Hinblick auf die Vermittlung von Sprachkompetenzen und Lernstrategien in allen Stufen würde für den nötigen Ausgleich sorgen, damit letztendlich die noch fehlende Sprachkompetenz und die nicht ausreichend vorhandenen ökonomischen und sprachlichen Ressourcen der Eltern nicht mehr so stark im Vordergrund stehen und nicht zum Entscheidungsträger beziehungsweise Hindernis bei Übertrittsentscheidungen in eine höhere Stufe werden.
Denn der Übertrittsentscheid kann wegweisend sein für die Zukunft eines Kindes. Aysun Polat glaubt, dass die Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Sekundarstufen nach oben überschätzt und als zu einfach verkauft wird. «Am Ende schaffen nur ganz wenige den Sprung nach oben.»
Sprachliche Frühförderung
Trotz der Kritik sieht Aysun Polat die Sprachkompetenz als wichtigen Faktor zu mehr Chancengerechtigkeit in der Bildung. Deshalb fordert sie vom Kanton Baselland auch mehr Investitionen in die sprachliche Frühförderung. «Die Sprachförderung sollte für Kinder mit sprachlichen Defiziten in der Spielgruppe zur Pflicht werden, ähnlich wie es in Basel-Stadt passiert.» Dafür seien verbesserte Ausbildungen der Leiterinnen und Leiter nötig, um die Kompetenzen zu vermitteln. Der Kanton und die Gemeinden könnten viel mehr leisten, gibt Aysun Polat zu bedenken. Tagesschulen sowie mehr Nachhilfeangebote wären gerade für Kinder mit Migrationshintergrund eine grosse Hilfe, sofern sie kostenlos sind.
Info FIBL: Aktuell berät der Landrat einen Gesetzesentwurf, der es den Gemeinden ermöglicht, ein selektives Sprachförderobligatorium einzuführen. Gleichzeitig wird eine obligatorische Sprachstanderhebung eingeführt. Es ist anschliessend an den Gemeinden zu entscheiden, ob sie diejenigen Eltern, deren Kinder Sprachförderbedarf haben, auffordern, ihr Kind in ein obligatorisches oder freiwilliges Sprachförderangebot zu schicken. |
Zum ersten Mal mit der Schule im Zolli
Kinder mit einem Migrationshintergrund starten ihren Bildungsweg häufig bereits mit einem Nachteil. Das sei im Schulhaus Längi omnipräsent. «Die meisten Kinder gehen mit der Schule zum ersten Mal in den Zolli», verrät Aysun Polat. Vorlesen vor dem Einschlafen sei bei ihren Kindern wenig verbreitet. Die Nachteile seien nicht nur finanzieller Natur. «Viele Eltern wissen gar nicht, was den Kindern hier in der Schweiz oder konkret hier in Pratteln geboten wird. Sie kennen zum Beispiel das Vereinswesen nur sehr wenig.» Obwohl die Gemeinde Pratteln sehr aktiv ist, wünscht sich Aysun Polat von den Gemeinden, dass sie Informationsveranstaltungen zur Pflicht erklärt, an denen sich zum Beispiel Vereine vorstellen und grundsätzlich aufgezeigt wird, welche Möglichkeiten Kindern offenstehen. Auch die Mütter-Väter-Beratung könnte für obligatorisch erklärt werden. Doch dafür fehlen die gesetzlichen Grundlagen.
Die Integration ins soziale Leben der Gemeinschaft stärke auch die Chancengerechtigkeit in der Bildung, erinnert Aysun Polat. Es gebe viele Wege, dies zu erreichen. «Die Politik muss aber bereit sein, die dafür nötigen Investitionen zu tätigen. Ich bin überzeugt, davon profitieren am Ende auch die Gesellschaft und Wirtschaft.»
Info FIBL:«Noch nie wurde der albanische Junge gleich oder besser bewertet» Arbnora unterrichtet an einer pädagogischen Hochschule. Mit ihren Studentinnen und Studenten führt sie jedes Jahr ein Experiment durch, das zeigt, wie tief Vorurteile in uns verankert sind. |