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- Ausgabe März 2023
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Perspektiven: Interview mit Elke-Nicole Kappus zum Thema Integration und Schule
«Wir müssen über die Empörung über Chancenungerechtigkeit hinaus zum Handeln kommen.» Elke-Nicole Kappus, Dozentin an der Pädagogischen Hochschule in Luzern, erklärt im Interview, wie sich die Schule zwischen gesellschaftlichem Auseinanderdriften und den Bemühungen nach mehr Chancengleichheit bewegt.Text: Tobias Gfeller, Foto: Elke-Nicole Kappus
Frau Kappus, ist Chancengleichheit in der Bildung eine Illusion?
Wenn es eine Illusion wäre, dann sollten wir das Gespräch abbrechen. Eine Illusion ist eine Täuschung – in sie zu investieren wäre Zeitverschwendung. Chancengleichheit ist viel eher Vision. Sie steht für ein Ziel, das wir als Gesellschaft anstreben. Sie gibt Richtung und Orientierung, wofür wir in Zukunft stehen wollen.
Sichert denn das Bildungssystem aktuell Chancengleichheit?
Eine Vision bezieht sich immer auf die Zukunft. Daher nein – wir sind sogar ziemlich weit davon entfernt. Die soziale Ungleichheit hat in den letzten Jahrzehnten weltweit zugenommen. Gleichzeitig waren wir wohl noch nie so nahe dran: Chancengerechtigkeit – als Weg zur Chancengleichheit – ist auf der bildungspolitischen Agenda und in der schulischen Praxis viel präsenter als in der Vergangenheit. Dass Lücken in der Chancengerechtigkeit erkannt und benannt werden, zeigt, dass es noch viel zu tun gibt. Es zeigt aber auch, dass das Bewusstsein für Chancenungerechtigkeit wächst – ebenso wie das Wissen darüber, welche Massnahmen dagegen ergriffen werden können.
Info FIBL: Für eine Begriffsbestimmung siehe Kapitel 1 des Equity Berichts. |

Zur Person
Elke-Nicole Kappus ist Dozentin für Bildungs- und Sozialwissenschaften und Leiterin der Fachstelle Diversität und Inklusives Studium an der Pädagogischen Hochschule in Luzern. Ihre Arbeitsschwerpunkte in Lehre, Forschung und Entwicklung sind Diversität und Inklusion, Bildung und Migration sowie soziale Ungleichheit, Chancengerechtigkeit und Nichtdiskriminierung.
Wo machen Sie heute die Ungleichheit oder -gerechtigkeit für Schulkinder mit Migrationshintergrund am stärksten fest?
Die Bildungsstatistik zeigt, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund – vor allem mit einer anderen Erstsprache und aus bildungsfernen Familien – ein höheres Risiko haben, in der Schule schlechter abzuschneiden. Sie sind – bei gleicher Leistung – häufiger von Klassenwiederholungen betroffen, in Klassen mit Grundansprüchen (z.B. Niveau A, Anmerkung der Redaktion) überrepräsentiert und in Klassen mit erweiterten Ansprüchen unterrepräsentiert. Aber Vorsicht: Der Begriff «Lernende mit Migrationshintergrund» bezeichnet eine äusserst heterogene Gruppe, die den unbegleiteten minderjährigen Flüchtling aus Afghanistan ebenso umfasst wie die Tochter des österreichischen Vorstandsvorsitzenden. Die Möglichkeit, Bildungschancen wahrzunehmen und umzusetzen, hängt von weit mehr Faktoren ab als vom Migrationshintergrund.
Ist also nicht der Migrationshintergrund, sondern der soziale Hintergrund entscheidend?
Es ist kein Entweder-Oder, sondern ein Zusammenspiel von Faktoren, wobei die soziale Herkunft und der sozioökonomische Status ein grosses Gewicht haben. Auch Kinder ohne Migrationshintergrund schneiden im Bildungssystem statistisch schlechter ab, wenn sie arm sind. Migration kann aber mit vielen Benachteiligungen einhergehen: Man kennt das System nicht, man kennt keine Menschen, die es einem erklären können, man weiss nicht, wo man Hilfe bekommen kann, man spricht eine andere Sprache und ist unter Umständen auch mit expliziten oder impliziten Vorurteilen konfrontiert. Aber eben: Das gilt nicht für alle, und auch nicht nur für Migrantinnen und Migranten.
Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten gibt es immer wieder bei Übertritten von der einen Schulstufe in die andere. Was sagt die Wissenschaft dazu?
Übergänge sind immer heikel, insbesonders wenn sie mit Selektion einhergehen. Zahlreiche Studien zeigen, dass dabei nicht nur die intellektuellen Leistungen eine Rolle spielen, sondern auch andere Faktoren wie die Einschätzung, ob das Milieu passt oder ob die Unterstützung durch das Elternhaus ausreichend ist. Das Argument, es sei deshalb für ein Kind besser, die Berufsschule zu besuchen als das Gymnasium, schränkt die Chancen ein, auch wenn es oft fürsorglich gemeint ist. Es ist in der Tat eine Herausforderung, in einem System zu bestehen, das einen Habitus oder Ressourcen voraussetzt, über welche die Person und ihr Umfeld vielleicht nicht verfügen.
Man kann also nicht einfach sagen, das Kind ist intelligent, hat aber schwierige Voraussetzungen, aber wir geben ihm die Chance trotzdem?
Natürlich ist es wichtig, diesem Kind eine Chance zu geben. Die sollte aber nicht auf den Zugang beschränkt sein. Vielmehr sollte das Bewusstsein um «schwierige Voraussetzungen» auch im neuen System da sein, so dass die Lernenden nach dem Übertritt weiter auf Unterstützung zählen können. Dass zum Beispiel der DaZ-Unterricht (Deutsch als Zweitsprache, Hinweis der Redaktion) weitergeführt wird, dass Lernstrategien vermittelt werden und vieles von dem, was Schweizer Akademikerkinder in ihrem familiären Umfeld ganz selbstverständlich mitbekommen. Chancengerechtigkeit betrifft nicht nur den Übertritt, sondern die Ausgestaltung des gesamten Bildungssystems.
Welche Rolle spielen Lehrpersonen?
Eine sehr wichtige. Sie sind 'Gatekeeper', Bezugsperson, Vorbild und vieles mehr. Wenn eine Lehrperson an einen glaubt, ist es leichter, schwierige Situationen zu meistern. Es hilft zu verstehen, dass eventuelle Schwierigkeiten vielleicht gar nicht an der eigenen Person liegen, sondern an der Passung zum System. Man kann sagen: Die Lehrperson macht für viele Lernende den entscheidenden Unterschied, der Chancen schafft und Zugänge ermöglicht. Aber die einzelne Lehrperson kann keine Chancengerechtigkeit herstellen. Dazu braucht es den ganzen Berufsstand und das ganze Bildungssystem.
Was fordern Sie als Wissenschaftlerin von den Kantonen und Gemeinden?
Nun, es ist nicht primär Aufgabe der Wissenschaft, etwas zu fordern. Aber ich würde mir wünschen, dass die Zusammenarbeit zwischen Forschung und Praxis verstärkt wird, dass konkrete Zielsetzungen in Fragen der Chancengerechtigkeit und Nichtdiskriminierung ganz selbstverständlich in die Schulentwicklung und Evaluation einfliessen und dass dafür ausreichend Mittel und Unterstützung zur Verfügung gestellt werden.
Die Übertritte ganz allgemein sind entscheidende Schritte im Leben. Hat sich dabei in Sachen Gerechtigkeit für Kinder mit Migrationshintergrund etwas getan?
Das System ist durchlässiger geworden. Es gibt mehr Förder- und Unterstützungsangebote. Und immer mehr Akteure im Bildungssystem sind sich der Herausforderung ungleicher Chancen bewusst. Das Wissen um die Barrieren hat zugenommen, ebenso wie die Anstrengungen, sie abzubauen. Aber die Herausforderungen werden nicht kleiner. Armin Nassehi, Soziologe an der Universität München, erinnert daran, dass Schule eben nicht nur die Aufgabe hat, Chancengleichheit zu gewährleisten, sondern auch «legitim ungleiche Positionen zuzuweisen» – und in diesem Spannungsfeld müssen Lehrerinnen und Lehrer fair handeln können.
Sind wir schon weit genug beim Aufholen der Sprachdefizite von Kindern mit Migrationshintergrund?
Zunächst einmal liegt das Defizit nicht bei den Kindern per se – das Defizit entsteht dadurch, dass die Kinder – oder die Jugendlichen und jungen Erwachsenen – nicht die Sprache sprechen, in der die Bildungsinstitutionen Kompetenzen und Wissen vermitteln. Dieses Defizit gilt es zu überwinden – durch durchgängige Sprachförderung und Sprachbildung auf allen Stufen, aber zum Beispiel auch durch die Anerkennung und Förderung von Mehrsprachigkeit.
Wenn ich Ihnen zuhöre, tönt das viel optimistischer, als wenn andere über Chancengerechtigkeit in der Bildung sprechen.
Naja, so optimistisch ist es nicht. Ungleichheiten existieren und werden ständig neu produziert. Dabei entsteht Ungerechtigkeit. Wir müssen über die Empörung darüber hinaus zum Handeln kommen. Es gilt, das Wissen, das wir über Barrieren und die Möglichkeit ihrer Überwindung haben, systematisch und konsequent aufzubauen und umzusetzen. Wir sollten aufhören, Schuldige zu suchen und mit dem Finger auf die Schulen zu zeigen. Die Herausforderungen sind enorm. Wir brauchen alle Kräfte, um sie zu bewältigen. Darauf sollten wir uns konzentrieren.
Welche Rollen haben die Pädagogische Hochschulen (PH) als Ausbildungsstätten der Lehrpersonen in dieser Sache?
Sie haben die Aufgabe, den Lehrpersonen in der Aus- und Weiterbildung die Kompetenzen zu vermitteln, die es braucht, um Chancenungerechtigkeiten zu erkennen und zu überwinden. Das Thema wird an jeder PH behandelt. Auch hier hat sich in den letzten Jahren viel getan. Der Kompetenzaufbau sollte aber noch systematischer erfolgen und noch besser verankert werden.
Gibt man den Lehrpersonen in dieser Thematik sogar zu viel Verantwortung?
Die Lehrpersonen sind ganz wichtig. Sie können als Bezugsperson für die Lernenden oder auch für eine Klasse sehr viel tun. Aber als einzelne Person kann sie das System nicht ändern, nur mitbeeinflussen im Rahmen ihres Handlungsspielraums. Deshalb sind Zusammenarbeit, Unterstützung und strukturelle Verankerung so wichtig. Die Verantwortung für Chancengleichheit kann nicht an die einzelnen Lehrpersonen delegiert werden.
Zum Ende: Was wünschen Sie sich in Bezug auf Chancengerechtigkeit in der Bildung und wo müssen wir hinkommen, gerade auch in Bezug auf die Übertritte?
Ich wünsche mir, dass die Diskussion um Chancengerechtigkeit versachlicht wird; dass Chancengleichheit als Vision einer demokratischen Gesellschaft ein von allen geteiltes Ziel ist; dass Diversitätssensibilität und diskriminierungskritisches Bewusstsein zu einem selbstverständlichen Teil des Berufskodex von Lehrpersonen werden. Wir sind auf dem Weg – auch, was die Gestaltung der Übergänge angeht. Es passiert nicht nichts. Aber wir dürfen nicht aufhören, dranzubleiben.