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- Ausgabe September 2023
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Perspektiven: soziale Sicherheit und das AIG
Wenn Personen mit einer ausländischen Staatsbürgerschaft ihren Aufenthaltstitel verlängern oder sich einbürgern möchten, spielt es eine wichtige Rolle, ob sie am Wirtschaftsleben teilnehmen. Wenn eine Person nämlich Sozialhilfe bezieht, kann das unter gewissen Bedingungen dazu führen, dass das Migrationsamt ihren Aufenthaltstitel zurückstuft oder diesen widerruft. Viele betroffene Personen trauen sich deshalb trotz ihrer finanziellen Notlage nicht, Sozialhilfe zu beantragen. Wir haben mit Yann Bochsler, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, darüber gesprochen, weshalb einige Menschen keine Sozialhilfe beziehen, was das für Auswirkungen hat und was unternommen werden kann.Text: FIBL, Foto: Yann Bochsler
Ein Drittel der Menschen, die eigentlich Anspruch darauf haben, bezieht keine Sozialhilfe. Das besagt das Armutsmonitoring des Kantons Basel-Landschaft. Was sind mögliche Gründe dafür?
Menschen, die eigentlich Sozialhilfe beziehen können, tun das nicht immer. Sie wissen nicht darüber Bescheid. Sie werden in anderer Form unterstützt. Oder sie beziehen bewusst keine Sozialhilfe. Es gibt verschiedene Gründe.
Die Sozialhilfe in der Schweiz ist wie eine Schuld. Alle Kantone regeln diese Schuld in ihren Gesetzen. Damit ist die Scham, wenn jemand Sozialhilfe bezieht, etabliert. Auch spricht die Öffentlichkeit und die Politik von Abhängigkeit. Dies bekräftigt das Schamgefühl. Sozialhilfe zu beziehen, wird als etwas Schlechtes betrachtet. Deshalb verzichten einige Menschen auf die Sozialhilfe. Wenn jemand einen Antrag stellt, muss diese Person all ihre persönlichen und finanziellen Informationen angeben. Der Antrag ist dadurch nicht ganz einfach. Viele Menschen wollen das nicht. Deshalb suchen sie nach Möglichkeiten, keine Sozialhilfe zu beziehen. Für Migrantinnen und Migranten kommt noch hinzu, dass sie in manchen Fällen die Schweiz verlassen müssen, wenn sie lange und viel Sozialhilfe beziehen. Dieses Gesetz gilt seit 2019. Es kann auch sein, dass einige Menschen nicht wissen, dass sie Sozialhilfe beziehen können. Auch gibt es Menschen, die schlechte Erfahrungen gemacht haben mit Ämtern. Weil das Vertrauen fehlt, stellen einige Menschen keinen Antrag. Oder sie machen es nur, wenn es nicht anders geht.

Zur Person
Yann Bochsler, Dr., hat Politik- und Rechtswissenschaften an den Universitäten Bern und Lyon studiert. Er war von 2011 bis 2015 an der Geschäftsstelle der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. Seit Juni 2015 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit (FHNW) angestellt. Er forscht und unterrichtet zu den Themen Armut, Arbeitslosigkeit, Alterspolitik, angemessene Wohnversorgung sowie zum Integrationsauftrag der öffentlichen Sozialhilfe. Im Juni 2022 hat er seine Dissertation zum Thema «Sozialhilfebeziehende junge Erwachsene ohne Ausbildung» an der Universität Genf abgeschlossen.
Was für Auswirkungen hat es auf das Leben der Betroffenen, wenn sie keine Sozialhilfe beziehen, obwohl sie eigentlich Anspruch darauf hätten? Gibt es bestimmte Auswirkungen, die Personen mit einer ausländischen Staatsbürgerschaft besonders stark treffen?
Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft sind tatsächlich besonders benachteiligt. Sie müssen einerseits befürchten, dass sie Sozialhilfegelder rückerstatten müssen. Seit der Einführung des neuen Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) im Jahr 2019 müssen sie zudem damit rechnen, dass es negative Konsequenzen für ihr Aufenthaltsrecht hat, wenn sie zu lange oder zu hohe Beträge aus der Sozialhilfe beziehen. Und auch auf ihre späteren Chancen auf eine Einbürgerung kann es eine negative Auswirkung haben, wenn sie einmal Sozialhilfe bezogen haben.
Wer keine Sozialhilfe bezieht, obwohl er oder sie ein Recht darauf hätte, lebt aus finanzieller Sicht unterhalb des Existenzminimums. Das bedeutet, dass dieser Mensch sich in einer dauerhaften finanziellen Notlage befindet. Das Existenzminimum wird von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS definiert.
Es ist sehr unterschiedlich, wie das Leben von Armutsbetroffenen im Einzelfall aussieht. Wie prekär die Situation ist, hängt zum Beispiel davon ab, was für ein soziales Umfeld jemand hat, ob die Person eine Arbeit hat, wie ihre Haushaltssituation ist und ob sie Unterstützung erhält von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie etwa Kirchgemeinden, Stiftungen, Vereinen oder Anlaufstellen.
Generell leben Menschen, die einen Migrationshintergrund haben und keine Sozialhilfe beziehen, im Vergleich zur Gesamtbevölkerung häufiger in engen Wohnverhältnissen. Und sie haben meist weniger Möglichkeiten, am kulturellen und sozialen Leben teilzunehmen. Würden diese Menschen Sozialhilfe beziehen, hätten sie innerhalb der Sozialhilfe womöglich Zugang zu Integrationsangeboten und zu Beratungen und Begleitungen durch kompetente Sozialarbeitende. Diese Unterstützung fällt aber weg, wenn sie keine Sozialhilfe beziehen.
Armut wird in einer Gesellschaft, die Leistung erwartet, oft als das Problem von einzelnen Menschen betrachtet. Welche anderen Hürden gibt es ausser dem Gesetz?
Fälle von Armut haben immer eine Ursache in der Struktur unserer Gesellschaft. Niemand möchte sich von anderen Menschen ausschliessen oder weniger Geld verdienen. Armut beinhaltet verschiedene Dimensionen und ist nicht einfach zu beschreiben. Damit ist gemeint, dass Menschen nicht Zugang haben zu verschiedenen Ressourcen wie beispielsweise Arbeit, Geld, Wohnen, Gesundheit. Ein wichtiger Punkt ist die Arbeit. In der Schweiz sollen alle arbeiten und für sich selbst sorgen. Es gilt das Prinzip: Wenn jemand nicht selbst in der Lage ist, eine Notlage zu bessern oder zu verhindern, wird unterstützt. Die Sozialversicherungen und kantonalen Bedarfsleistungen senken das Armutsrisiko etwas. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Armutsprävention. In den letzten 15 bis 20 Jahren haben aber die Sozialwerke den Anspruchskreis verkleinert, die Anspruchsbedingungen verschärft und auch die Dauer der Unterstützung eingegrenzt. Dies betrifft vor allem diejenigen Menschen, die nicht oder noch nicht arbeiten (Jugendliche und junge Erwachsene, Menschen in Ausbildung, Menschen die gesundheitlich angeschlagen sind und sich in der Kategorie «zu fit für die IV, zu krank für den Arbeitsmarkt» befinden, Menschen, die unbezahlte Care-Arbeit verrichten, geflüchtete Menschen etc.). Im Vergleich zu Schweizerinnen und Schweizern haben Migrantinnen und Migranten schlechtere Chancen, weil sie häufiger Diskriminierung erleben. Eine Arbeit oder eine Wohnung zu finden kann schwierig sein, wenn der Name nicht «typisch schweizerisch» ist. Auch Diplome aus dem Ausland werden nicht immer anerkannt. Einen Job zu finden, wird dadurch schwieriger. Wer nicht oder zu wenig arbeitet, hat einen tieferen Schutz im Alter. Die Rente hängt nämlich von der Arbeitsbiografie ab.
Welches Verständnis von Integration zeigt sich darin, dass das Migrationsrecht und der Sozialhilfebezug miteinander verknüpft werden? Gibt es in der Geschichte der Schweiz Erklärungen für diese Sichtweise?
Dieses Verständnis von Integration folgt der Logik, dass alle Menschen sich in das Schweizer Wirtschaftssystem eingliedern müssen oder ansonsten ausgegrenzt werden. Personen mit einer Migrationsgeschichte sind in der Schweiz grundsätzlich nur dann willkommen, wenn sie der Gemeinschaft nicht zur Last fallen. Es sollen nur jene Menschen kommen, die unseren Mangel an Fachkräften beheben. Das neue Ausländer- und Integrationsgesetz AIG verstärkt diese Verknüpfung.
Diese Logik ist aber nicht neu. «Die Ausgrenzungslogik ist so alt wie die Nationalstaaten selbst.» - wie das meine Kollegin Lisa Marie Borrelli im Gespräch mit der WOZ (Ausgabe 6/21) sagt. Die ursprüngliche Idee eines solidarischen Sozialstaates ist an nationale Grenzen geknüpft und an eine bestimmte nationale Gemeinschaft. Da stellen sich sofort die Fragen: Wer gehört zu dieser Gemeinschaft und wer nicht? Und was sind die Bedingungen dafür, dass jemand Zugang zu der Gemeinschaft erhält? Personen mit einer Migrationsgeschichte und wenig finanziellen Ressourcen gehören tendenziell nicht zu dieser Gemeinschaft.
Wie wirkt sich die Vermischung der Sozialhilfe mit dem Migrationsrecht auf die Arbeit der Menschen aus, die in sozialen Berufen arbeiten?
Das hängt vom Arbeitsfeld ab. Bei der öffentlichen Sozialhilfe kann das bedeuten, dass es schwierig wird, eine Beziehung mit den Menschen aufzubauen, die Sozialhilfe beziehen. Seit Inkrafttreten des überarbeiteten Gesetzes müssen die Sozialarbeitenden eine Meldung an das Migrationsamt machen. Das kann auch schlecht für die Integrationsarbeit sein. Wenn Menschen ständig Angst um ihre Existenz in der Schweiz haben, dann ist es schwieriger, eine Arbeit zu suchen oder eine Ausbildung zu starten.
Wenn viele Menschen trotz Anspruch keine Sozialhilfe beziehen, spricht man von einer hohen «Nichtbezugsquote». Die Nichtbezugsquote kann Hinweise darauf geben, wie gut die Bekämpfung von Armut funktioniert. Was kann die Politik unternehmen, um die Instrumente der Armutsbekämpfung zu verbessern?
Wir haben im Bereich der Armutsbekämpfung ein finanzielles und ein politisches Problem in der Schweiz. Das grösste Problem ist aktuell der hohe finanzielle Druck auf die Kantone und Gemeinden. Die Gemeinden sind für die Armutsbekämpfung und Prävention zuständig. Die Kantone und Gemeinden müssen aber aufgrund des politischen Drucks Kosten sparen in der Sozialhilfe, bei den Ergänzungsleistungen oder Prämienverbilligungen. Solange das so ist, kann die Armutsbekämpfung nicht verbessert werden. Der Fokus liegt dann nämlich nicht auf einer zielführenden und professionellen Unterstützung von Armutsbetroffenen.
Die Instrumente für die Armutsbekämpfung sind bereits vorhanden. Wir haben ein gut ausgebautes System der sozialen Sicherheit in der Schweiz. Und wir haben bei den Sozialarbeitenden, Coaches, Agoginnen und Agogen auch die nötige Fachexpertise. Zudem verfügen wir über verschiedene Organisationen und Strukturen, wie unter anderem die Integrationsprogramme oder Sozialfirmen. Problematisch sind die stigmatisierenden Diskurse, die konkreten Rahmenbedingungen sowie manchmal die fehlende Bereitschaft in der Wirtschaft, Menschen mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit eine Chance zu geben. Die Höhe und Dauer der finanziellen Unterstützung von armutsbetroffenen Haushalten ist teilweise zu tief. Das trifft zum Beispiel sozialhilfebeziehende junge Erwachsene besonders stark. Zudem sind die Zugangsbedingungen zu Leistungen für bestimmte Personengruppen schwieriger geworden, etwa für Menschen ohne Schweizer Pass.
Praxis des Amts für Migration und Bürgerrecht BL: Bereits vor der Revision des AIG konnte ein Sozialhilfebezug zum Widerruf einer Bewilligung führen. Je nach Aufenthaltszweck und Status werden bei einer Meldung eines Sozialhilfebezugs weitere Abklärungen vorgenommen. Jeder Fall präsentiert sich anders und so erfolgt immer eine Einzelfallprüfung, welche die Situation der betroffenen Personen berücksichtigt. Die Abklärungen erfolgen allenfalls erst zu einem späteren Zeitpunkt, nachdem eine gewisse Dauerhaftigkeit und Höhe von Sozialhilfebezug erreicht ist. Die Meldung als solche führt nie automatisch zu einer bestimmten Massnahme. Wir haben stets eine Verhältnismässigkeitsprüfung vorzunehmen, worunter auch die Verschuldensfrage subsumiert wird. Dabei werden in aller Regel zunächst Massnahmen wie Integrationsvereinbarungen oder eine Verwarnungen geprüft, um auf eine berufliche resp. wirtschaftliche Integration hinzuwirken. Ein Selbstverschulden wird angenommen, wenn sich jemand nicht seinen Fähigkeiten entsprechend um eine Erwerbstätigkeit bemüht und/oder nicht wunschgemäss mit den Behörden kooperiert. Wer unverschuldet in eine wirtschaftlich schwierige Situation kommt und sich ernsthaft bemüht, wieder wirtschaftliche Selbständigkeit zu erlangen, läuft i.d.R. nicht Gefahr, seine ausländerrechtliche Bewilligung alleine wegen Bezugs von Sozialhilfe zu verlieren. Allerdings stellen Integrationsbemühungen, und damit nicht nur der Spracherwerb, sondern auch die Teilhabe am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben der Gesellschaft, eine ausländerrechtliche Daueraufgabe dar. |