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Der Umgang mit Opfern in Fällen von häuslicher Gewalt
Und dann stellt das Opfer Antrag auf Sistierung des Verfahrens oder zieht den Strafantrag zurück – wieso es bei häuslicher Gewalt einen besonders einfühlsamen Umgang mit den Opfern braucht und die Mitarbeitenden der Staatsanwaltschaft frustrationsresistent sein müssen.von Jacqueline Bannwarth, Erste Staatsanwältin
Als Staatsanwältin beschäftige ich mich seit vielen Jahren mit häuslicher Gewalt. Zum Einstieg einige Zahlen, welche die Situation eindrücklich aufzeigen:
Im Jahr 2023 registrierte die Polizei schweizweit 19’918 Straftaten im häuslichen Bereich. Diese Zahl ist auf einem ähnlichen Niveau wie in den vergangenen vier Jahren. Die Dunkelziffer ist hoch. Es wurden 11’479 geschädigte Personen polizeilich registriert, davon 70,1% weibliche Personen. Im häuslichen Bereich wurden 25 vollendete Tötungsdelikte verzeichnet (2022: 25), das sind 47,2% aller polizeilich registrierten vollendeten Tötungsdelikte in der Schweiz (Total: 53). 20 Opfer waren weiblich und 5 männlich. (Quelle: Bundesamt für Statistik)
Die Wichtigkeit des einfühlsamen Umgangs mit Opfern
Die Aufgabe der Staatsanwaltschaft ist die Untersuchung und Verfolgung von Straftaten. In Fällen von häuslicher Gewalt gilt es auch immer, durch eine prioritäre Behandlung und Anordnung von geeigneten Massnahmen (Untersuchungshaft, Ersatzmassnahmen wie Kontaktverbot, Electronic Monitoring, Besuch eines Lernprogramms, etc.) eine mögliche Eskalation zu verhindern versuchen.
Diese Fälle sind komplex und anspruchsvoll für diejenigen, die sie untersuchen und für die Opfer sind sie emotional belastend. Besonders wichtig ist deshalb ein einfühlsamer Umgang mit Opfern von häuslicher Gewalt und zwar aus folgenden Gründen:
- Vertrauensaufbau: Opfer von häuslicher Gewalt haben oft Angst und sind traumatisiert. Ein einfühlsamer Umgang hilft, Vertrauen aufzubauen, was für die Zusammenarbeit unerlässlich ist. Wenn das Opfer Vertrauen in die/den Mitarbeiter/in der Staatsanwaltschaft hat, ist es eher bereit, über den Vorfall zu sprechen und das Verfahren aktiv zu unterstützen.
- Vermeidung von Retraumatisierung: Opfer von häuslicher Gewalt haben bereits eine schwere emotionale und physische Belastung erlitten. Ein unsensibler Umgang könnte das Trauma verschlimmern und das Opfer retraumatisieren. Einfühlungsvermögen kann dazu beitragen, das Risiko einer weiteren psychischen Belastung zu minimieren.
- Fundiertere Beweisführung: Wenn sich Opfer verstanden und sicher fühlen, öffnen sie sich oftmals mehr und erzählen detaillierter und genauer über das Erlebte, was für das Verfahren entscheidend sein kann. Dies kann die Beweisführung stärken und die Chancen auf eine erfolgreiche Verurteilung des Täters oder der Täterin erhöhen.
- Stärkung der Opferrechte: Ein einfühlsamer Umgang respektiert die Würde und Rechte der Opfer. Es ist unsere Pflicht, die Opfer umfassend über ihre Rechte, den Gang des Verfahrens, die Folgen einer Aussagenverweigerung, eines Strafantragsrückzugs und eines Antrags auf Sistierung des Verfahrens aufzuklären. Denn nur wer seine Rechte kennt, kann diese auch selbstbestimmt wahrnehmen, was gerade in Verfahren von häuslicher Gewalt für die Opfer wichtig ist.
- Ermutigung zur Anzeige: Einfühlsames Verhalten gegenüber Opfern kann auch dazu beitragen, dass mehr Menschen bereit sind, Fälle von häuslicher Gewalt zu melden. Wenn bekannt ist, dass die Justizbehörden mit Empathie und Respekt vorgehen, sinkt die Angst vor dem System, was die Anzeigebereitschaft erhöhen kann und die Dunkelziffer sinken lässt.
Warum Opfer häuslicher Gewalt den Antrag auf Sistierung des Verfahrens stellen
Trotz einfühlsamen Umgangs mit den Opfern und grossem Engagement seitens Staatsanwaltschaft beim Führen der Strafuntersuchung kommt es immer wieder vor, dass Opfer entweder ganz am Anfang des Verfahrens, mittendrin oder unmittelbar vor Abschluss einen Strafantrag zurückziehen oder einen Antrag auf Sistierung des Verfahrens stellen, also das Verfahren pausieren oder einstellen lassen möchten. Die Gründe hierfür sind vielschichtig und komplex.
Viele Opfer fürchten, dass der Täter sie erneut angreift, wenn sie das Verfahren fortsetzen. Diese Angst kann durch Drohungen des Täters oder durch frühere Erfahrungen mit Gewalt verstärkt werden. Daneben bestehen häufig auch emotionale Bindungen zwischen Opfer und Täter, die das Opfer davon abhalten, das Verfahren weiterzuführen. Diese Bindungen können durch Liebe, Schuldgefühle oder Manipulation entstehen. Ebendiese vielschichtigen emotionalen Bindungen sind auch der Grund, weshalb einige Opfer hoffen, dass sich die Täterin oder der Täter ändert und dass die Beziehung gerettet werden kann. Sie glauben, dass die Fortsetzung des Verfahrens diese Chance zunichtemachen könnte.
Nicht vergessen werden darf, dass die Opfer oft auch finanziell vom Täter oder von der Täterin abhängig sind. Die Aussicht auf wirtschaftliche Unsicherheit oder den Verlust des Lebensstandards kann das Opfer dazu bewegen, das Verfahren abzubrechen. Und gerade wenn auch Kinder involviert sind, zögern viele Opfer, das Verfahren fortzusetzen, aus Angst vor den Auswirkungen auf die Kinder oder der Möglichkeit, das Sorgerecht zu verlieren. Die Angst vor sozialer Stigmatisierung und Scham kann ebenfalls eine Rolle spielen. Viele Opfer möchten nicht, dass ihr privates Leid öffentlich gemacht wird, und ziehen sich daher zurück.
Und nicht zuletzt kann das Strafverfahren selbst auch langwierig und emotional anstrengend sein. Opfer können sich ausgebrannt und überfordert fühlen und sich daher entscheiden, das Verfahren zu beenden.
Als Staatsanwältin, Staatsanwalt oder Untersuchungsbeauftragte/r ist es wichtig, diese Gründe zu verstehen und sensibel darauf zu reagieren. Wir müssen sicherstellen, dass die Opfer über ihre Rechte und die Folgen eines Rückzugs/einer Sistierung umfassend informiert sind und die Anträge ihrem freien Willen entsprechen. Ein Urteil darüber, ob wir den Antrag für sinnvoll oder richtig halten steht uns nicht zu.
Wie Staatsanwältinnen, Staatsanwälte und Untersuchungsbeauftragte mit dem Frustpotential umgehen können
Zugegebenermassen ist diese persönliche Abgrenzung nicht immer einfach. Die Untersuchungsführung in Fällen von häuslicher Gewalt ist oft arbeitsintensiv, es sind verschiedene Beweise zu erheben, viele Einvernahmen durchzuführen, verschiedene Anträge ans Zwangsmassnahmengericht zu stellen, evtl. Gutachteraufträge zu erteilen und vieles mehr. Die Staatsanwaltschaft führt die Untersuchung neutral, das heisst, sie klärt die belastenden und entlastenden Umstände mit gleicher Sorgfalt ab. Im Laufe der Untersuchung entsteht trotzdem oft ein persönliches Bild bei der/dem zuständigen Mitarbeiter/in, nicht über Unschuld oder Schuld der Täterin oder des Täters, sondern über die Lebenssituation von Opfer und Täter/in und basierend auf der Erfahrung von zahlreichen anderen Verfahren im Bereich häuslicher Gewalt auch über die möglichen Erfolgsaussichten eines weiteren Zusammenlebens.
Gerade auch wenn dasselbe Opfer das Strafverfahren gegen dieselbe/denselben Täter/in zum wiederholten Mal sistieren will, besteht bei der/dem fallführenden Staatsanwältin oder Staatsanwalt sowie mit dem Fall betrauten Untersuchungsbeauftragten ein Frustrationspotenzial. Aus meiner Sicht ist es aber wichtig, sich solche Gefühle oder persönliche Meinungen gegenüber den Opfern nie anmerken zu lassen. Durch Schulungen und Spezialisierungen erlangen wir Verständnis für die Hintergründe und die Dynamik der häuslichen Gewalt. Das hilft uns, jeden neuen und jeden «altbekannten» Fall wiederum motiviert in Angriff zu nehmen und zum Abschluss zu bringen.
Häusliche Gewalt ist ein komplexes und gesellschaftlich weit verbreitetes Problem, das entschlossenen und sensiblen Einsatz erfordert. Als Staatsanwältin ist es meine Aufgabe, konsequente Strafverfolgung zu betreiben und den Opfern mit Empathie und Respekt zu begegnen.