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22.05.2024

Empathie im Strafverfahren

Bei Strafverfahren ist die Objektivität zentral, persönliche Gefühle sind fehl am Platz. Doch ohne Empathie lassen sich Straftaten nur schwerlich in ihrer Gesamtheit erfassen. Weshalb sich Empathie und Gleichbehandlung nicht ausschliessen und wie man als Staatsanwältin mit diesem Thema umgeht, zeigt Patrizia Krug, Erste Staatsanwältin, in den folgenden Zeilen.

von Patrizia Krug, Erste Staatsanwältin

Als Staatsanwältin ist meine Hauptaufgabe die Aufklärung und Verfolgung von Straftaten. Alle sich dabei stellenden Rechtsfragen muss ich dabei möglichst objektiv und rational entscheiden. Nur so kann ich sicherstellen, dass alle gleichgelagerten Fälle auch gleichbehandelt werden.

Subjektivität ist bei meinem Job fehl am Platz. Die Justitia trägt nicht umsonst neben der für die Gleichbehandlung stehenden Waage häufig eine Augenbinde als Symbol der Unbeeinflussbarkeit.

Ein fester Platz in Strafverfahren gebührt aus meiner Sicht jedoch der Empathie - dem Einfühlungsvermögen.

Empathie bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, die Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden. Im Umgang mit allen Verfahrensbeteiligten – insbesondere bei Einvernahmen – ist Empathie für mich daher zentral. Schliesslich möchte ich in Befragungen relevante Informationen zur Aufklärung erhalten, dazu gehören nicht nur die objektiven Tatumstände, sondern auch die subjektiven Beweggründe, die zu einer Tat geführt haben.

Empathie als exploratives Hilfsmittel

Als Staatsanwältin ist es für mich wichtig, dass ich zu sämtlichen Verfahrensbeteiligten einen authentischen, fairen und respektvollen Zugang habe. Ich muss Verständnis für die emotionale Befindlichkeit der anderen Person aufbringen und mich in diese Befindlichkeit der Gesprächspartner/innen respektive auch deren soziales Umfeld einfühlen und deren Perspektive übernehmen können.

Wir können uns nicht nur in die Gefühle anderer einfühlen, sondern auch in ihr Denken oder ihre Wünsche, ihre Welt, ihr Lebensgefühl und ihre Lebensgeschichte. Empathie hat also – besonders in einer Strafuntersuchung – auch einen explorativen Aspekt: Ich setze mich bewusst und intensiv mit der Lebenswelt des Gegenübers auseinander, um herauszufinden, mit wem oder was ich es beim anderen zu tun habe. Und um die Tatmotive und
-umstände zu verstehen. 

Ich muss bei einer Einvernahme die Emotionen meines Gegenübers wahrnehmen und diesen Emotionen auch den notwendigen Raum geben können. Dazu gehört, freies Erzählen ohne Unterbrechung zuzulassen und die lange Stille vor einer Antwort zu ertragen.

Zuhören ist immens wichtiger als «verhören». Besonders im Wissen darum, dass eine Befragungssituation einmalig ist und sich nicht wiederholen lässt.

Das Dilemma um Empathie und eigene Emotionen

Bei jeder Kommunikation entwickeln sich zwangsläufig eigene Gefühle für die gegenübersitzenden Menschen. Professionelle Distanz erfordert, diese Gefühle innerlich wahrzunehmen, zu reflektieren, aber sie nicht auszuleben.

Das steht aber häufig in einem krassen Kontrast zu meiner Lebenswirklichkeit, die gelebte Empathie kann – im Anbetracht der oft erschreckenden Schicksale und der grossen eigenen Verantwortung – auch zu einer emotionalen Belastung führen.

Empathie und Gleichbehandlung – Ein Gegensatz?

Spätestens gegen Ende der Hauptverhandlung gilt es den Einzelfall wieder zu objektivieren. Bei der Urteilsfindung soll Willkür ausgeschlossen und alle Angeklagten gleichbehandelt werden.

Ist der Gleichbehandlungsgrundsatz aber unvereinbar mit der Empathie, die eher auf das Individuum und die Umstände des Einzelfalls ausgerichtet ist?

Aus meiner Sicht ist das Gegenteil der Fall: Die Empathie ist genau dort besonders relevant, wo es darum geht, Lebenssachverhalte und Tatzusammenhänge in ihrer Ganzheit zu erfassen und den individuellen Sachverhalt zu verstehen.

Mit der Anklageschrift wird der individuelle Sachverhalt schriftlich festgehalten. Diese rationale Anpassung auf die rechtlichen Grundlagen – insbesondere auch die emotionalen Aspekte einer Tat – wäre ohne eine vorherige empathische, ganzheitliche Fallwahrnehmung nur erschwert möglich.

Nur mit dieser Wahrnehmung kann ein Fall mit einem anderen, vielleicht ähnlich gelagerten Fällen verglichen oder aber einzelne Fallkomponenten unterschieden werden. Nur so kann man den Verfahrensbeteiligten gerecht werden.

Und genau deshalb braucht die Empathie einen festen Platz auf jeder Stufe des Strafprozesses.