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Perspektiven: Integration aus juristischer Perspektive
Wir haben mit Stefanie Kurt über den Integrationsbegriff aus juristischer Perspektive gesprochen. Sie ist promovierte Juristin und Professorin an der HES-SO Valais-Wallis. Sie erklärt, wie der Begriff im Gesetz verstanden und ausgelegt wird.
Text: FIBL, Foto: Stefanie Kurt
Seit 2019 haben wir ein überarbeitetes Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG). Der Begriff «Integration» kommt neu auch im Titel vor. Was hat das für eine Wirkung auf das Verständnis des Integrationsbegriffs?
Im Zuge der Teilrevision des Ausländergesetzes (AuG) zum Ausländer, Ausländerinnen und Integrationsgesetz (AIG) ist insgesamt die Forderung nach und die Förderung von Integration gestärkt worden. Diese Änderungen basieren auf dem Prinzip von Fördern und Fordern, welches in Art. 4 AIG festgehalten ist. Neu ist das Kapitel 8 im AIG (Art. 53-58b AIG) in zwei Abschnitte unterteilt: Integrationsförderung und Integrationserfordernisse. Ebenso sind neu in Art. 58a Integrationskriterien festgehalten. Anhand dieser Integrationskriterien beurteilen die zuständigen Behörden Ausländerinnen und Ausländer in Bezug auf ihre Integration. Die Erfüllung oder Nichterfüllung dieser Integrationskriterien kann – je nach Situation und Gesamtwürdigung – ausländerrechtliche Folgen nach sich ziehen, wie beispielsweise den Verlust einer Aufenthaltsbewilligung oder den Nicht-Erhalt einer Niederlassungsbewilligung, aber auch eine vorzeitige Erteilung der Niederlassungsbewilligung.
Dabei gilt: Je mehr Rechte mit dem angestrebten Rechtsstatus verbunden sind, desto höher sind die Anforderungen an die Integration. Dieses Prinzip wird als «Stufenmodell Integration» bezeichnet. Ein Aspekt für das Verständnis dieses Modells sind die Sprachanforderungen. Für bestimmte Bewilligungen verlangen das AIG und die Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit ein bestimmtes Sprachniveau gemäss dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER). Dabei steigen die erforderlichen Sprachkenntnisse mit der angestrebten Verbesserung des Aufenthaltstitels. Als Beispiel: Während eine ausländische Person mit Aufenthaltsbewilligung via Familiennachzug nur ein mündliches Sprachniveau A1 aufweisen muss, werden für eine ordentliche Niederlassungsbewilligung A2 mündlich und A1 schriftlich verlangt. Die Integrationskriterien präzisieren somit, was von ausländischen Personen erwartet wird und sie dienen gleichzeitig den zuständigen Behörden als Orientierungshilfe.
Zusammenfassend: «Integration» hat mit dem AIG eine Verrechtlichung erfahren. Einerseits ist damit eine Aufgabe der verschiedenen Behörden und der Gesellschaft gemeint, andererseits wird aber auch die Eigenleistung von ausländischen Personen stärker betont.

Zur Person
Stefanie Kurt, Dr. iur, ist ordentliche Professorin an der HES-SO Valais-Wallis, Hochschule und Höheren Fachschule für Soziale Arbeit in Siders. Sie ist Projektleiterin u.a. im National Center of Competence in Research (NCCR) – on the move und im Nationalen Forschungsprogramm 80 Covid-19 in der Gesellschaft. Ihre Themenschwerpunkte sind Migration, Integration und Menschenrechte. Sie ist Mitherausgeberin des Sammelbandes Soziale Arbeit und Integrationspolitik in der Schweiz - Professionelle Positionsbestimmungen, welcher 2023 beim Verlag Seismo erschienen ist.
Was waren die Beweggründe, den Integrationsbegriff überhaupt ins Gesetz aufzunehmen?
Bereits 1999 war der Begriff «Integration» im damaligen Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer [1] vorhanden. Darin war eine Bestimmung zu finden, die es dem Bund ermöglichte, finanzielle Beiträge für die soziale Integration von ausländischen Personen festzulegen. Gleichzeitig sah die Verordnung über die Begrenzung der Zahl der Ausländer vor, dass günstige Rahmenbedingungen für die Eingliederung von ausländischen Arbeitskräften zu schaffen sind. Konkretere Ausführungen wurden damals nicht gemacht.
Im Jahr 2000 wurden mit dem Erlass der Integrationsverordnung durch den Bundesrat die Grundsätze und die Ziele der Integration festgelegt. Mit dem AuG wurden dann die Grundsätze und Ziele der Integrationspolitik in Art. 4 AuG und Art. 53-58 AuG verankert.
Die Teilrevision des AuG zum AIG legte den Schwerpunkt auf den Integrationsbereich. Das Ziel war, die gesellschaftliche Bedeutung von Integration zu unterstreichen (Änderung des Gesetzestitel ins Ausländer-, Ausländerinnen- und Integrationsgesetz). Zentrale Punkte der Teilrevision umfassten die Weiterführung und Stärkung des Regelstrukturansatzes im Bereich der Integration, ergänzend die spezifische Integrationsförderung, die Einführung von Integrationskriterien, die Sprachförderung, den Schutz vor Diskriminierung, die gesetzliche Verankerung der Integrationsvereinbarung und -empfehlung, finanzielle Aspekte und eine stärkere Steuerung der Integrationspolitik durch den Bund.
[1] ANAG, in Kraft bis 31.12.2007.
Die Integration wird neu im Stufenmodell gedacht. Je «besser» der Status einer Person, umso höher sind die Voraussetzungen dafür, diesen zu erlangen. Die Einbürgerung wird in diesem Modell als letzte Stufe, quasi als Krönung einer gelungenen Integration, betrachtet. Allerdings ist gerade diese Stufe nicht für alle Personen gleichermassen erreichbar (siehe Studie). Was bedeutet das für die Chancengerechtigkeit und die Teilhabemöglichkeiten von Personen mit einer Migrationsgeschichte?
Das Verständnis von Integration ist ein mehrseitiger gesamtgesellschaftlicher Prozess, der in alle gesellschaftlichen und staatlichen Lebensbereiche hineinwirkt. Das heisst Integration ist eine horizontale und vertikale Querschnittsaufgabe: der Bund, die Kantone, die Gemeinden die Wirtschaft und die Gesellschaft sind daran beteiligt. Bund, Kantone und Gemeinden sind verpflichtet, Integrationshindernisse abzubauen. Die Behörden sind angehalten, in ihrer Informationsarbeit eine Willkommenskultur zu schaffen und die Integration von Ausländerinnen und Ausländer zu fördern und einzufordern.
Der Schutz vor Diskriminierung und die Verwirklichung von Chancengleichheit sind entscheidende Aspekte im Rahmen des Integrationsprozesses einer ausländischen Person. Denn Diskriminierung hindert Ausländer und Ausländerinnen daran, eigenverantwortlich am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und teilzuhaben.
So berücksichtigen die Behörden den Schutz vor Diskriminierung bei der Erfüllung von Integrationsaufgaben mit. Sie schaffen günstige Rahmenbedingungen für die Chancengleichheit und die Teilhabe der ausländischen Bevölkerung am öffentlichen Leben, indem die Potenziale der ausländischen Bevölkerung genutzt werden, die Vielfalt berücksichtigt und Eigenverantwortung eingefordert wird. Diese Grundsätze der Integrationsförderung unterstreichen die Wichtigkeit der Verwirklichung der chancengleichen Teilhabe am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben für alle. Denn dies stellt die Basis für eine faire und möglichst konfliktarme Gesellschaft sicher.
Die Integrationspolitik legt den Fokus auf die Verwirklichung von Chancengleichheit, auf den Schutz vor Diskriminierung und die Teilhabe der ausländischen Bevölkerung. Dennoch, je nach Situation, gibt es ausländische Personen, welche nicht oder nur erschwert die Integrationskriterien erfüllen, trotz der Förderung der Integration. Dies kann als Konsequenz bedeuten, dass diese Personen integrationsrechtlich nicht weiterkommen. Oder anders und vereinfacht formuliert: Bestimmte ausländische Personen erhalten keine Niederlassungsbewilligung, welche für die ordentliche Einbürgerung Voraussetzung ist. Dies sind beispielsweise armutsbetroffene Personen oder ältere Personen, welche aus unterschiedlichen Gründen die Spracherfordernisse nicht (mehr) erfüllen können.
Neu sind im AIG auch sogenannte «Integrationskriterien» enthalten, beispielsweise die Respektierung der Werte der Bundesverfassung. Wie werden diese überprüft?
In Art. 58a AIG sind folgende Integrationskriterien festgelegt:
- die Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung,
- die Respektierung der Werte der Bundesverfassung,
- die Sprachkompetenzen,
- und die Teilnahme am Wirtschaftsleben oder am Erwerb von Bildung.
Der Situation von Personen, welche die Integrationskriterien, wie Sprachkompetenzen oder die Teilnahme am Wirtschaftsleben oder am Erwerb von Bildung aufgrund einer Behinderung oder Krankheit oder anderen gewichtigen persönlichen Umständen nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen erfüllen können, ist angemessen Rechnung zu tragen.
Mit Blick auf die Integrationskriterien hat es Kriterien, welche durch «harte Fakten», wie beispielsweise eine Arbeitsbestätigung, ein Sprachzertifikat oder einen (leeren) Strafregisterauszug belegt werden können. Die Respektierung der Werte der Bundesverfassung ist hingegen ein «weiches» Kriterium, etwas, das nicht «gleich fassbar und messbar» ist. Die Bundesverfassung erwähnt auch nicht, was diese Werte sind. Gemäss der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit fallen darunter die rechtsstaatlichen Prinzipien sowie die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Schweiz, die Grundrechte wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das Recht auf Leben und persönliche Freiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Meinungsfreiheit und die Pflicht zum Besuch der obligatorischen Schule: Darunter fallen gemäss Weisungen und Erläuterungen des Staatssekretariats für Migration (SEM) zum Ausländerbereich beispielsweise die Ablehnung anerkannter Respektsbekundungen gegenüber Lehrpersonen oder Mitarbeitenden von Behörden als Nichteinhalten von verfassungsmässigen Pflichten. Bei diesem Integrationskriterium geht es folglich beispielsweise um eine Äusserung oder um ein Verhalten einer ausländischen Person, das im Widerspruch zu den Werten der Bundesverfassung stehen kann. Fraglich ist, inwiefern dieses zur Anwendung kommt, da beispielsweise - je nach Situation - Äusserungen oder Verhaltensweisen einen Verstoss gegen die öffentliche Ordnung darstellen (strafrechtliche Relevanz), und folglich ein anderes, «hartes», Integrationskriterium bereits nicht erfüllt wäre.
Wie beurteilen die Gerichte die Beschlüsse der Migrationsämter? Wie hat sich die Rechtsprechung in Bezug auf die Integrationskriterien entwickelt?
Illustrativ möchte ich gerne das Urteil des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 23. Februar 2022 [2] erwähnen: Das Gericht äusserte sich zu den Voraussetzungen eines ernsthaften und aktuellen Integrationsdefizits bei einem Widerruf respektive einer Rückstufung einer Niederlassungsbewilligung. Das Kantonsgericht hat sich mit zwei der Integrationskriterien, unter anderem der Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und der Respektierung der Werte der Bundesverfassung - konkret: die Respektierung der Gleichstellung der Geschlechter - auseinandergesetzt. Ein Mann hat sich wiederholt behördlichen Anordnungen widersetzt und seine Unterhaltspflichten gegenüber seiner Ex-Ehefrau und seinen Kindern nicht erfüllt. Er rechtfertigte die Nichtzahlung damit, dass seine Ex-Frau sein Besuchsrecht verweigere. Das Familiengericht entschied jedoch, dass sein Vorgehen unzulässig sei, und er zahlte die geschuldeten Beträge. Trotz dieser Zahlungen sahen das Migrationsamt und andere Instanzen seine Taten als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Zudem hat seine Ex-Frau erklärt, dass sie den Gesichtsschleier freiwillig getragen, diesen aber seit der Scheidung abgelegt habe. Das Migrationsamt warf dem Mann daraufhin vor, dass er seine Ex-Frau unterdrückt und auch ihr Deutschlernen verhindert habe.
Das Kantonsgericht liess die Argumente des Migrationsamt nicht gelten und verneinte ein aktuelles Integrationsdefizit des Mannes. Das Gericht argumentierte, dass der Mann seine Unterhaltszahlungen geleistet habe und die kurzzeitige Unterbrechung nicht als ernsthaftes Integrationsdefizit bewertet werden könne. Ebenfalls sei es nicht objektiv nachweisbar, inwiefern der Mann seine Ex-Frau zum Tragen eines Gesichtsschleiers gezwungen habe. Das Kantonsgericht betonte, dass diese Vorwürfe nicht haltbar seien, da solche Entscheidungen auf inneren Wertvorstellungen beruhen, die durch Grundrechte gedeckt und mit der Rechtsordnung vereinbar seien.
Was bedeutet das überarbeitete AIG für die Migrationsämter und was für Folgen hat es für Menschen, die von den Entscheiden der Migrationsämter betroffen sind?
Die Situation für die Migrationsämter ist schwer einzuschätzen, da mir keine öffentlichen Berichte oder Studien bekannt sind. Die Auswirkungen des AIG auf ausländische Personen wurden beispielsweise während der Covid-19-Pandemie deutlich: Viele ausländische Personen, etwa Familien, Alleinerziehende und insbesondere Personen mit einer Niederlassungsbewilligung wandten sich selbst in extremen Notlagen nicht an die Sozialdienste, aus Angst vor ausländerrechtlichen Konsequenzen. Grund dafür waren die Änderungen im AIG, die es den Behörden erlauben, Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen aufgrund von Sozialhilfebezug zu entziehen oder deren Verlängerung zu verweigern. Dies betrifft auch Personen mit Niederlassungsbewilligung und einer Aufenthaltsdauer von mindestens 15 Jahren in der Schweiz.
Im Juni 2023 hat das Parlament die parlamentarische Initiative „Armut ist kein Verbrechen“ angenommen. Diese verlangt, dass Personen, die seit zehn Jahren rechtmässig in der Schweiz wohnen und eine Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung haben, ihre Aufenthaltsberechtigung aufgrund von Sozialhilfebezug nicht mehr verlieren können. Dies ist ein wichtiger Schritt, damit ausländische Personen ihr Recht auf soziale Sicherung ohne ausländerrechtliche Konsequenzen wahrnehmen können und ihr Vertrauen in staatliche Institutionen zurückgewinnen.