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- Ausgabe März 2022
- Perspektiven Teil 1: Der Schweizer Pass - die Krönung der Integration?
Perspektiven Teil 1: Der Schweizer Pass - die Krönung der Integration?
Wer sich in der Schweiz einbürgern will, muss verschiedene Hürden überwinden. Viel zu hohe, finden Expertinnen und Experten.Text: Güvengül Köz, Fotos: Privat
Hülya K.* und ich bestellen uns ein warmes Getränk, während draussen der kalte Winterregen gegen die Fenster prasselt. Ich kenne sie seit sie auf der Welt ist. In den vergangenen Jahren haben wir uns aber aus den Augen verloren. Warum das so gekommen ist, können wir uns beide nicht erklären. «Das Leben halt», sagt sie treffend und streicht sich mit der Hand die geglätteten, schulterlangen Haare hinter die Ohren. Hülyas Eltern stammen aus Ostanatolien. «Sie haben sich Ende der 1970er-Jahre in Basel kennengelernt und später geheiratet. Meine ältere Schwester und ich sind im Kantonsspital Liestal zur Welt gekommen und in Pratteln aufgewachsen», erzählt sie, während sie langsam den Zucker in ihren Tee umrührt. Hülya ist heute 36 Jahre alt und lebt immer noch in Pratteln. Mit 15 Jahren entschloss sie sich für die Einbürgerung. «Für mich war es ein bewusster Entscheid, vor allem, weil ich nie begriff, was mich von meinen Schweizer Freundinnen und Freunden unterschied: Wir gingen in die gleiche Schule, sprachen die gleiche Sprache und hatten die gleichen Hobbys. Ich wollte deshalb auch die gleichen Rechte.»
Ein entspannter Spaziergang sei der Weg zum roten Pass nicht gewesen, erinnert sie sich. «Ich musste unter anderem Referenzen angeben, belegen, dass ich einen einwandfreien Leumund habe und insgesamt 2800 Franken bezahlen – und das als Teenager.» Über zwei Jahre habe sie allein auf einen Termin für das Einbürgerungsgespräch in der Bürgergemeinde Pratteln gewartet. «Ich wurde 1.5 Stunden lang zur Geschichte, Staatskunde und Geografie der Schweiz, des Baselbiet und der Region befragt. Ich konnte alle Fragen problemlos beantworten. Aber einem Kommissionsmitglied hat das offenbar nicht gereicht. Sie wollte von mir wissen, warum ich überhaupt Schweizerin werden wolle und warum mir die Niederlassungsbewilligung C nicht ausreiche. Immerhin könne ich ja damit nicht ausgewiesen werden.» Die Frage habe sie verletzt und gleichzeitig unglaublich wütend gemacht. So als würde man ihr die Schweizer Staatsbürgerschaft nicht gönnen, so als wäre sie selbst minderwertig. «Ich habe mich trotz meiner grossen Nervosität getraut, ihr zu sagen, dass ich gerne auf den Schweizer Pass verzichten würde, wenn sie mir eine Schweizerin in meinem Alter präsentiert, die alle Fragen genauso gut beantwortet», fährt sie fort und schüttelt ungläubig den Kopf – vielleicht genauso wie sie es schon damals getan hat.
Weniger Einbürgerungen
Im Gegensatz zu Hülya K. haben sich in den vergangenen Jahren immer weniger Menschen in Baselland für den Schweizer Pass entschieden: Während sich 2010 noch über 1000 Migrantinnen und Migranten im Kanton einbürgern liessen, waren es 2020 nur noch 511 Personen. Auch auf nationaler Ebene zeigt sich ein ähnliches Bild. Gemäss den vom Staatssekretariat für Migration (SEM) veröffentlichten Zahlen ist vor allem in den letzten fünf Jahren ein starker Rückgang zu beobachten (2017: ca. 46 000 Personen; 2020: ca. 35 000). Diese Entwicklung stehe im direkten Zusammenhang mit der Totalrevision des Bundesgesetzes über das Schweizer Bürgerrecht (BüG), sagt die Migrationssoziologin Rosita Fibbi von der Universität Neuchâtel. «Das Gesetz, das am 1. Januar 2018 in Kraft trat, sollte insbesondere die Verfahren zwischen den Kantonen harmonisieren und eine Verbindung zwischen Integration und Einbürgerung gewährleisten», so Fibbi. Doch mit der einhergehenden parlamentarischen Debatte traten die Bemühungen zur Verschärfung des Gesetzes in den Vordergrund. «Zwar wurde die Mindestaufenthaltsdauer von zwölf auf zehn Jahre reduziert, aber im Vergleich zu vorher können jetzt nur noch jene ein Einbürgerungsgesuch stellen, die über eine Niederlassungsbewilligung (Ausweis C) verfügen. Früher galt die Aufenthaltsdauer von zwölf Jahren für alle Migrantinnen und Migranten – unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus», fährt Fibbi fort. Damit werden vom ordentlichen Einbürgerungsverfahren alle Personen mit einem B-Ausweis sowie vorläufig Aufgenommene (Ausweis F) ausgeschlossen. Bei Letzteren werden die in der Schweiz verbrachten Jahre neu nur noch zur Hälfte berücksichtigt.

Rosita Fibbi
Dr. Rosita Fibbi hat in Rom, Zürich und Genf Politikwissenschaften studiert. An der Universität Lausanne dozierte sie über Migrationssoziologie, sie ist Senior Researcher und Mitglied des Koordinationskomitee des Swiss Forum for Migration and Population Studies an der Universität Neuchâtel.
Diese neuen Regelungen seien nicht nur diskriminierend, sondern würde auch der ursprünglichen Harmonisierungsidee widersprechen», konstatiert Marc Spescha, Experte für Migrationsrecht. «Es sind die kantonalen Migrationsämter, die über den Erhalt des C-Ausweises entscheiden und damit auch darüber, ob ein Einbürgerungsverfahren überhaupt in Gang gesetzt werden kann. Diesbezüglich werden aber in den Kantonen unterschiedlich strenge Praktiken angewandt. Zum Teil sind die migrationsamtlichen Anforderungen für die Erteilung des C noch strenger als für die Einbürgerung. Die Kriterien für die Beurteilung der Integration sind zwar in beiden Fällen praktisch deckungsgleich. Die Praxis zeigt aber, dass die Migrationsämter bei der Beurteilung behinderungsbedingt schwacher Sprachkenntnisse oder bei der Frage der Integration in den Arbeitsmarkt teilweise strenger urteilen als die Einbürgerungsbehörden.» Andreas Räss, Leiter Amt für Migration und Bürgerrecht Basel-Landschaft schliesst nicht aus, dass es in anderen Kantonen in Einzelfällen zu unterschiedlichen Anwendungen der Integrationskriterien kommen kann. «Das trifft aber für Baselland definitiv nicht zu», betont er. «Wir nehmen selbstverständlich bei der Erteilung der Niederlassungsbewilligung immer Rücksicht darauf, ob die Person aufgrund einer Krankheit, einer Behinderung oder anderen persönlichen Gründen nicht in der Lage ist, die geforderte Sprachkompetenz nachzuweisen. Dennoch», ergänzt er, würde ein minimales Mass an Bemühungen zum Erwerb der am Wohnort gesprochenen Sprache erwartet.

Andreas Räss
Andreas Räss leitet aktuell das Amt für Migration und Bürgerrecht des Kantons Basel-Landschaft. Zuvor war er Leiter der Fachstelle Diversität und Integration des Kantons Basel-Stadt und davor stellvertretender Amtsleiter des Migrationsamts Basel-Stadt.
Der Sprachkompetenz kommt auch im neuen BüG eine wichtige Bedeutung zu. «Einbürgerungswillige müssen heute mündlich ein B1- und schriftlich ein A2-Niveau vorweisen, früher waren die Anforderungen nicht so hoch», präzisiert Marc Spescha. Den Kantonen steht es jedoch frei, noch strengere Anforderungen zu stellen. So wird beispielsweise im Kanton Basel-Landschaft von den Gesuchstellenden mündlich wie auch schriftlich das Niveau B1 verlangt. Eine weitere Bedingung, die das BüG stellt, ist die aktive Teilnahme der Bewerberinnen und Bewerbern am Wirtschaftsleben. Entsprechend sind von der Einbürgerung inzwischen auch alle Migrantinnen und Migranten ausgeschlossen, die Sozialhilfe beziehen. «Vom Wortlaut des Gesetzes und der Verordnung her wäre zwar Erwerbsarmut oder betreuungs- oder ausbildungsbedingten Sozialhilfebezügen Rechnung zu tragen. Dies geschieht aber nicht in allen Gemeinden: So wird einkommensschwachen wie auch bildungsfernen Menschen die Chance verwehrt, den Schweizer Pass zu beantragen. Nicht selten deshalb, weil ihnen schon das Migrationsamt die C-Bewilligung verweigert», so Spescha.

Marc Spescha
Dr. iur. Marc Spescha ist selbstständiger Anwalt, Lehrbeauftragter im schweizerischen Migrationsrecht an der Universität Freiburg/Fribourg und Titularprofessor der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg/Fribourg. Er nimmt regelmässig Lehraufträge an Fachhochschulen, bei Hilfswerken und in Bildungsinstituten wahr und hat zahlreiche Publikationen insbesondere auf dem Gebiet des Migrationsrechts.
Angst vor Erniedrigung
Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass sich seit dem Inkrafttreten des neuen BüG besonders Personen aus dem EU-Raum einbürgern lassen. Gemäss Bundesamt für Statistik waren es 2020 vor allem deutsche Staatsangehörige (20 %), gefolgt von Migrantinnen und Migranten aus Italien (11.6 %) und Frankreich (8.6 %). «Es ist nicht so, dass sich die anderen nicht einbürgern lassen wollen. Zum Teil trauen sich Migrantinnen und Migranten der ersten Generation gar nicht, einen Antrag zu stellen, weil sie Angst davor haben, die Einbürgerungsprüfung nicht zu bestehen. Das heisst, die Angst vor einer Erniedrigung spielt beim Entscheid eine zentrale Rolle. Umso wichtiger ist es dieser Personengruppe, dass sich wenigstens ihre Kinder so schnell wie möglich einbürgern lassen, damit sie aufgrund ihrer Herkunft nicht diskriminiert werden», sagt Rosita Fibbi und verweist damit auf die Studie «Zugang zur erleichterten Einbürgerung von Personen der dritten Generation», die sie gemeinsam mit Philippe Wanner im Auftrag der Eidgenössischen Migrationskommission (EKM) durchgeführt hat. Die Studie, die am 18. Februar 2022 veröffentlicht wurde, befasst sich mit ausländischen Jugendlichen der dritten Generation, die seit Februar 2018 das Recht auf eine erleichterten Einbürgerung haben. «Das Problem ist, dass wesentlich weniger Jugendliche als ursprünglich erwartet diese Möglichkeit nutzen. Von den rund 25 000 Berechtigten wurden bisher nur gerade rund 1800 eingebürgert», so Fibbi. Grund dafür ist gemäss der Studie unter anderem der unverhältnismässig grosse administrative Aufwand für die Jugendlichen. «Sie müssen nicht nur nachweisen, dass die Eltern mindestens für fünf Jahre die obligatorische Schule in der Schweiz besucht haben, sondern auch dass bereits die Grosseltern in der Schweiz aufenthaltsberechtigt waren», so Fibbi. Gemäss der Studie sei es für die Betroffenen nicht nur sehr mühsam diese Formulare zusammenzutragen, sondern zum Teil auch gar nicht mehr möglich: Wenn beispielsweise die Grosseltern in ihr Herkunftsland zurückgekehrt sind und keinen Schweizer Aufenthaltstitel mehr besitzen oder wenn sie verstorben sind. Dann, so die Studie weiter, «kann es auch für die Verwaltungsbehörden sehr mühsam sein, Sachverhalte aus der Zeit vor der Digitalisierung von Verwaltungsdaten zu dokumentieren». Solche Stolpersteine sind für die Migrationsexpertin schwer zu verstehen: «Diese jungen Frauen und Männer haben vielleicht keinen Schweizer Pass, sie sind dennoch Schweizerinnen und Schweizer. Sie fühlen sich beleidigt, wenn sie wie Marsmenschen behandelt werden. Identität ist ein wechselseitiger Prozess, deshalb müssen wir anerkennen, dass sie ein gleichwertiger Teil dieser Gesellschaft sind. Ihre Sozialisation findet hier statt – im Kindergarten, in der Schule und später in der Ausbildung. Die Verweigerung erscheint mir manchmal so als habe die Schweiz nicht nur kein Vertrauen in die Migrantinnen und Migranten, sondern genauso wenig in ihre eigene Institutionen.» Marc Spescha sieht es ähnlich, auch wenn er es zugespitzter formuliert: «Unser Umgang mit der Migrationsbevölkerung entspricht bei weitem nicht dem Postulat einer Willkommenskultur. Dass über ein Viertel der hier lebenden Menschen wegen der ausländischen Staatsangehörigkeit nicht an Wahlen und Abstimmungen teilnehmen darf, obwohl diese Menschen hier arbeiten, Steuern zahlen und hier aufgrund ihrer langjährigen Anwesenheit heimisch sind, ist ein äusserst schwerwiegendes demokratiepolitisches Defizit.»
Roter Pass als Integrationsbeschleuniger
Auf politischer Ebene werden immer wieder Versuche gestartet, die Einbürgerungspraxis zu reformieren. Meistens ohne Erfolg. Der Landrat Thomas Noack forderte beispielsweise letztes Jahr vergebens in einer Motion, die Einbürgerungsentscheide künftig nur durch gewählte Exekutivorgane fällen zu lassen. Damit wollte de SP-Politiker sicherstellen, dass in den Baselbieter Bürgergemeindeversammlungen nicht mehr willkürlich über Einbürgerungen entschieden wird. Auch die Motion des St. Galler Ständerats Paul Rechsteiner hatte letzten Dezember in der kleinen Kammer keine Chance. Er forderte den Übergang zum sogenannten «ius soli»-Prinzip, das heisst den Erwerb der Staatsbürgerschaft bei Geburt. Damit ist das Thema aber nicht vom Tisch: Der Verein «Aktion Vierviertel» hat inzwischen die Lancierung einer Initiative angekündigt, die das Anliegen von Rechsteiner an die Urne bringen will. Marc Spescha unterstützt das Vorhaben. «In der Schweiz herrscht die Vorstellung vor, die Einbürgerung sei die Krönung einer erfolgreichen Integration. Dabei wäre es sinnvoller, sie als ein Instrument für eine stärkere Integration und Identifikation zu nutzen», so der Jurist.
Dass die Einbürgerung tatsächlich wie ein Katalysator auf die Integration wirken kann, belegt die vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützte Studie «Catalyst or Crown» der Universitäten Zürich, Stanford und der London School of Economics. Untersucht haben die Forscherinnen und Forscher die Entwicklung der sozialen und politischen Integration bei Personen, deren Einbürgerungsgesuch vor 15 Jahre an der Gemeindeversammlung mit einem Zufallsmehr angenommen oder abgelehnt wurde. Die Resultate zeigen ein klares Bild: Am positivsten wirkt sich die Einbürgerung auf Migrantengruppen aus, die mit den stärksten Vorurteilen zu kämpfen haben, sprich vor allem Personen aus Südosteuropa und der Türkei sowie nicht in der Schweiz Geborene. Auch Hülya K. ist vom Katalysator-Effekt überzeugt: «Auch wenn der rote Pass letztendlich nur ein Stück Papier ist und mich auch nicht vor Alltagsdiskriminierung schützt, hat er mir geholfen, selbstbewusster mit meiner eigenen Identität umzugehen. Ich weiss, ich bin Schweizerin und niemand kann mir das absprechen.»
* Name der Redaktion bekannt
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