Während Jahrzehnten fand das Thema in einer breiteren Öffentlichkeit kaum Beachtung, und die Opfer blieben mit ihrem Leid und ihren Anliegen weitgehend sich selbst überlassen. Erst in jüngerer Zeit wurde das Thema in seiner Ganzheit dank der Initiative von Interessengruppen und Einzelpersonen von den Medien aufgegriffen, worauf ein öffentlicher Meinungsbildungsprozess begann.
Eine Reihe von zwischenzeitlich entstandenen Filmen, Ausstellungen und Reportagen darüber hinterliessen beim Publikum regelmässig ein grosses Erstaunen und eine tiefe Betroffenheit, dass solche Ereignisse und solches Leid in der Schweiz überhaupt passieren konnten. Auch die Forschung begann sich vermehrt mit den Hintergründen und den Auswirkungen der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen auseinanderzusetzen, und schliesslich wurde das Thema auf die politische Agenda gesetzt.
Im September 2010 baten Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf als Vertreterin des Bundes sowie Vertreterinnen und Vertreter der Kantone (SODK2, KKJPD3 und KOKES4) die administrativ Versorgten an einem Gedenkanlass in Hindelbank um Entschuldigung. Am 11. April 2013 fand in Bern ein weiterer Gedenkanlass statt, zu dem sämtliche Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 und deren Angehörige eingeladen waren. An diesem bewegenden Anlass baten Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD), sowie Vertreter und Vertreterinnen der Kantone, Städte, Gemeinden, Landeskirchen, Heime und des Bauernverbandes alle Opfer für das geschehene Unrecht um Entschuldigung.
Bundesrat entschuldigt sich bei den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen (admin.ch)
Runder Tisch
Im Anschluss an den Gedenkanlass vom 11. April 2013 wurde im Juni 2013 der Runde Tisch von Bundesrätin Simonetta Sommaruga eingesetzt. Neben Betroffenen und dem Bund waren am Runden Tisch die Kantone, Städte, Gemeinden, Institutionen, Organisationen, Kirchen und die Wissenschaft vertreten. Luzius Mader, in der Funktion des Delegierten für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, hat den Runden Tisch geleitet und dabei zwischen den Anliegen der Opfer sowie den Behörden und weiteren Organisationen und Institutionen vermittelt. Der Runde Tisch hatte insbesondere den Auftrag, eine umfassende Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 in die Wege zu leiten. Zunächst unterstützte der Runde Tisch den Aufbau von Anlaufstellen in den Kantonen, erliess Empfehlungen betreffend Aktensicherung und Aktenzugang und schuf einen Soforthilfefonds für Härtefälle. Im Juli 2014 verabschiedete er einen Bericht mit Maßnahmenvorschlägen zuhanden der politischen Behörden. Der Runde Tisch begleitete auch die Umsetzung des Bundesgesetzes über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981. Inzwischen hat der Runde Tisch seine Aufgaben erfüllt. Am 8. Februar 2018 fand die letzte Sitzung des Gremiums in Bern statt.
http://www.fuersorgerischezwangsmassnahmen.ch/index.html
Unabhängige Expertenkommission
Im November 2014 hat der Bundesrat eine Unabhängige Expertenkommission (UEK) eingesetzt und mit der Aufarbeitung des Themas beauftragt. Die UEK hat insbesondere die administrative Versorgung bis 1981 untersucht, daneben aber auch andere Formen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in ihrer Arbeit berücksichtigt. Im September 2019 hat die Expertenkommission ihren Schlussbericht präsentiert und zeigt darin neben der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschehnisse auf, welche zusätzlichen Massnahmen nötig wären, um den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen eine echte Wiedergutmachung gewährleisten zu können.
www.uek-administrative-versorgungen.ch
Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG)
In kurzer Zeit wurde das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 ausgearbeitet und vom Parlament mit deutlichen Mehrheiten beschlossen. Seit dem 1. April 2017 ist es in Kraft und die Aufarbeitung im Gang. Das Gesetz bezweckt die Anerkennung und Wiedergutmachung des Unrechts, das den Betroffenen Personen zugefügt worden ist. Es gewährt den Personen, die als Opfer anerkannt sind, einen „Solidaritätsbeitrag“ von CHF 25‘000.00 zu beantragen. Es regelt zudem unter anderem die Aufbewahrung und Verwendung der Akten zu den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen und gewährt den betroffenen Personen einen einfachen und kostenlosen Zugang zu den betreffenden Akten. Das Gesetz sah ursprünglich vor, dass die betroffenen Personen nur während 12 Monaten, das heißt bis spätestens Ende März 2018, ein Gesuch um Solidaritätsbeitrag einreichen können. Zahlreiche Personen haben jedoch zu spät noch Gesuche eingereicht oder beabsichtigen, dies noch zu tun. Der National- und der Ständerat haben deshalb beschlossen, die Frist zur Einreichung eines Antrags auf den Solidaritätsbeitrag im Gesetz ersatzlos zu streichen. Damit haben betroffene Personen neu zeitlebens die Möglichkeit, ein Gesuch einzureichen. Die Schlussabstimmung zur Vorlage erfolgte am 19. Juni 2020. Das revidierte Gesetz trat am 1. November 2020 in Kraft.
Am 20. Dezember 2019 hat das Parlament einen weiteren Änderungsantrag im Zusammenhang mit dem Solidaritätsbeitrag angenommen. Die Änderung ist am 1. Mai 2020 in Kraft getreten und betrifft Begünstigte eines Solidaritätsbeitrages die Ergänzungsleistungen beziehen. Der ausbezahlte Solidaritätsbeitrag wurde bei Bezügern von Ergänzungsleistungen bisher als Vermögen angerechnet. Dadurch ist es vorgekommen, dass die Ergänzungsleistungen gekürzt oder in Einzelfällen eingestellt wurden. Nun wurde entschieden, dass eine Anrechnung des Solidaritätsbeitrages an das Vermögen nicht gerechtfertigt ist. Eine bereits erfolgte Anrechnung in den Ergänzungsleistungen wird rückwirkend korrigiert und die Kürzung aufgehoben bzw. der Anspruch neu geprüft.
https://www.bj.admin.ch/bj/de/home/gesellschaft/fszm/rechtsgrundlagen.html
Nationales Forschungsprogramm (NFP 76) zum Thema „Fürsorge und Zwang – Geschichte, Gegenwart, Zukunft“
Der Bundesrat hat im Februar 2017 den Schweizerischen Nationalfonds SNF mit der Durchführung des Nationalen Forschungsprogramms "Fürsorge und Zwang — Geschichte, Gegenwart, Zukunft (NFP 76)" beauftragt. Das NFP 76 zielt darauf ab, Merkmale, Mechanismen und Wirkungsweisen der schweizerischen Fürsorgepolitik und -praxis in ihren verschiedenen Kontexten zu analysieren. Es sollen mögliche Ursachen für integritätsverletzende und -fördernde Fürsorgepraxen identifiziert und die Auswirkungen auf die Betroffenen untersucht werden. Der Finanzrahmen des Programms beträgt CHF 18 Mio. Die Forschungsdauer beträgt 5 Jahre.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-65747.html
Im Herbst 2019 betonte der Bundesrat, dass der Prozess der Wiedergutmachung und der Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen sei. Bestrebungen zugunsten einer weiterführenden Aufarbeitung werden als sehr wichtig erachtet. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass der Schwerpunkt des Wiedergutmachungsprozesses zukünftig auf eine verstärkte finanzielle Unterstützung von Selbsthilfeprojekten und auf die Verbreitung der Forschungsergebnisse gelegt werden soll. Das Parlament hat in der Wintersession 2019 die nötigen Kredite für die nächsten vier Jahre deutlich aufgestockt.